„Verkehrssicherheitsinitiative 2020“
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 07.12.2012; Fragestunde Nr. 46
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die mündliche Anfrage der Abgeordneten Thomas Adasch und Ernst-August Hoppenbrock (CDU)
Die Abgeordneten hatten gefragt:
Nach Ansicht von Experten ist die Erhöhung der Verkehrssicherheit eine zentrale gesellschaftliche und verkehrspolitische Aufgabe. Die Begriffe „innere Sicherheit“ und „Verkehrssicherheit“ sind eng verwoben. Auch deshalb startete im Jahr 2011 in Niedersachsen die „Verkehrssicherheitsinitiative 2020“, bei der Polizei, Verkehrsbehörden und -organisationen eng zusammenarbeiten. Im Rahmen der Initiative wurden präventive, repressive und straßenbauliche Maßnahmen zur Reduzierung von Verkehrsunfällen mit schweren Personenschäden überprüft. Gemeinsam mit Verkehrsexperten und Wissenschaftlern hat die Polizei einen Zehnpunkteplan entwickelt, der sich unmittelbar an die Verkehrsteilnehmer wendet.
Ebenso sind in der Vergangenheit Maßnahmen zur Verkehrssteuerung von der niedersächsischen Landesregierung ergriffen worden. In einer Video-Kolumne (24. Oktober 2012) kritisierte der Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD die länderübergreifende Initiative „Blitzer-Tag“ scharf. In der Medienbotschaft sprach der Oberbürgermeister von Hannover von „Aktionismus“. Vielmehr brauche man aus seiner Sicht statt Geschwindigkeitskontrollen Baustellen-Apps, die vor Gefahrenstellen warnen (vgl. www.spdnds.de).
Wir fragen die Landesregierung:
1. Welches Ergebnis erzielte der länderübergreifend gestartete „Blitzer-Tag“ in Niedersachsen?
2. Hat die Landesregierung Kenntnis davon, ob andere Bundesländer den „Blitzer-Tag“ als positive Maßnahme bewerten?
3. Wie bewertet die Landesregierung die Aussagen des Oberbürgermeisters von Hannover in Bezug auf Baustellen-Apps unter Berücksichtigung von Aspekten der Verkehrssicherheit?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Anfrage wie folgt:
Die Verkehrssicherheitsarbeit gehört zu den unverzichtbaren Kernaufgaben der Polizei. Aus ihren umfassenden Zuständigkeiten im Verkehrsrecht, in der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung bündelt die Polizei ein hohes Maß an Handlungskompetenzen und spezifischen Fachkenntnissen. In diesem Zusammenhang trägt die Polizei mit ihren Maßnahmen der Verkehrsunfallaufnahme, -bearbeitung und -analyse, der Verkehrsunfallprävention, der Verkehrsüberwachung und der Beteiligung an der Verkehrsraumgestaltung wesentlich zur Verbesserung der Verkehrssicherheit bei.
Ihr Handeln richtet die Polizei Niedersachsen auf Grundlage einer orts-, zeit- und zielgruppenbezogenen Verkehrsunfallanalyse vorrangig auf das schwere Verkehrsunfallgeschehen aus. Anhand der Ergebnisse werden die personellen und materiellen Ressourcen vorrangig auf die besonders unfallbelasteten Streckenbereiche sowie auf die im Unfallgeschehen auffälligen Personengruppen konzentriert. Dabei bettet die Polizei Niedersachsen ihre präventiven und repressiven Maßnahmen in eine unter ganzheitlichen und integrativen Gesichtspunkten gestaltete strategische Gesamtkonzeption ein. Grundsätzlich wird dabei der Prävention der Vorrang eingeräumt.
Die Verkehrssicherheit in Niedersachsen konnte in den letzten Jahren insgesamt deutlich verbessert werden. So ist die Zahl der Verkehrstoten im Zeitraum von 2001 bis 2010 um 41,15 % zurück gegangen. Die Zahl der Schwerverletzten verringerte sich um 34,15 %. Im Jahr 2010 wurden in Niedersachsen die wenigsten Verkehrsunfallopfer seit Einführung der Verkehrsunfallstatistik im Jahr 1956 gezählt; der zweitniedrigste Wert wurde in 2011 erreicht.
In der örtlichen Verteilung tödlicher Verkehrsunfälle fällt auf, dass in Niedersachen jährlich etwa 70 % der Verkehrstoten bei Verkehrsunfällen außerhalb geschlossener Ortschaften ohne Bundesautobahnen versterben, während dieser Anteil im Bundesdurchschnitt bei 60 % liegt.
Dabei tragen folgende Gründe zu den besonders schweren Folgen von Unfällen auf dem Landstraßennetz bei: Die Geschwindigkeit ist sowohl Unfallursache als auch ein gravierender folgenverschärfender Faktor. Insbesondere dann, wenn verunfallte Autos auf starre Hindernisse prallen – wie zum Beispiel an Straßenbäume. Deshalb müssen Geschwindigkeitsüberschreitungen insbesondere auf Landstraßen nachdrücklich bekämpft werden. Verkehrsunfällen liegt fast immer menschliches Fehlverhalten zugrunde.
Um die Sicherheit auf den Straßen in Niedersachsen weiter zu erhöhen, hat das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr im Jahr 2011 die „Verkehrssicherheitsinitiative 2020“ (VSI 2020) mit dem Ziel gestartet, die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten bis zum Jahr 2020 um ein Drittel zu reduzieren. Polizei, Verkehrsbehörden und -organisationen arbeiten in der Initiative eng zusammen, um präventive, repressive und straßenbauliche Maßnahmen zur Reduzierung von Verkehrsunfällen mit schweren Personenschäden zu überprüfen. Gemeinsam mit Verkehrsexperten und Wissenschaftlern hat das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport einen „10-Punkte-Plan“ entwickelt. Dieser „10-Punkte-Plan“ beinhaltet sowohl kurz-, mittel- und langfristige Schritte zur Optimierung interner Handlungsabläufe und Abstimmungsprozesse als auch Maßnahmen, um die Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer unmittelbar zu erreichen. Die Handlungsfelder erstrecken sich von der interdisziplinären Vernetzung mit Kooperationspartnern über die verbesserte Verkehrsunfallanalyse, die Einbindung der Verkehrswissenschaft, Unfallforschung und Unfallmedizin, die gezielte Öffentlichkeitsarbeit unter Nutzung der neuen Medien, die Durchführung von Verkehrsunfallpräventionsveranstaltungen, die Stärkung der Arbeit der Unfallkommissionen bis hin zur Verstärkung der Verkehrsüberwachung durch Polizei und Kommunen.
Die VSI 2020 ist mit externen Forschungsaufträgen und internen Untersuchungen hinterlegt. Die gewonnen Erkenntnisse fließen ständig in die strategische und taktische Ausrichtung des Rahmenkonzepts ein. Somit ist gewährleistet, dass die VSI 2020 fortlaufend angepasst und aktualisiert wird.
Verkehrsüberwachung, somit auch die Geschwindigkeitsüberwachung, ist seit Jahrzehnten eine der Kernaufgaben innerhalb der polizeilichen Verkehrssicherheitsarbeit aller Länderpolizeien. Sie zielt darauf, das Geschwindigkeitsniveau, insbesondere Geschwindigkeitsspitzen, zu senken. Die Wirkung und Transparenz der polizeilichen Verkehrsüberwachungsmaßnahmen stehen dabei im Vordergrund. Die Einhaltung von Verkehrsregeln hängt, neben der Überwachung, weitestgehend von der Einsicht und Akzeptanz durch den Verkehrsteilnehmer ab. Mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit soll über Transparenz die nötige Akzeptanz herbeigeführt werden.
Die Wirkungen eines solchen Zusammenspiels von Überwachung, Entdeckungsrisiko, Sanktionswahrscheinlichkeit und Transparenz durch Öffentlichkeitsarbeit auf eine Verminderung der Geschwindigkeitsspitzen, die in der Folge zur Reduzierung schwerwiegender Unfälle beitragen, sind belegt. Diese Grundsätze sind mit den Erlassen des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport zu den Leitlinien für die Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei und zum Rahmenkonzept der VSI 2020 am 03. Mai 2012 für verbindlich erklärt worden.
Bereits am 29. August 2012 ist eine Geschwindigkeitsmessaktion der niedersächsischen Polizei landesweit mit begleitender Öffentlichkeitsarbeit und Bekanntgabe der Messstellen durchgeführt worden. Gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen und dem benachbarten Schengen-Staat Niederlande hat Niedersachsen am 24. Oktober 2012 zeitgleich Geschwindigkeitsüberwachungsmaßnahmen in einem 24-stündigen sogenannten „Blitzmarathon“ durchgeführt, um in einem zusammenhängenden Gebiet sowohl die Gefährlichkeit und Ursächlichkeit von Geschwindigkeitsüberschreitungen im Bereich von Unfallhäufungsstrecken als auch die konsequenten Reaktionen der Überwachungsbehörden zu verdeutlichen.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu Frage 1.:
In Niedersachsen haben über 1.000 Polizistinnen und Polizisten an rund 350 Messstellen fast 120.000 Fahrzeuge überprüft. Dabei stellten die Behörden 2.994 Verstöße im Verwarngeldbereich und 895 Geschwindigkeitsüberschreitungen im Bußgeldbereich fest. In Niedersachsen haben diese Zahlen verbunden mit der vergleichsweise sehr geringen Anzahl an 60 Fahrverboten klar gezeigt, dass sich die Verkehrsteilnehmer überwiegend an die vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbeschränkungen gehalten haben. Die Beanstandungsquote lag damit bei beeindruckenden 3,16 %. Sie lag deutlich unterhalb der Werte von anderen
Großkontrollen der Polizei im Jahr 2012 in Niedersachsen. Bei der letzten landesweiten
Geschwindigkeitsmessung am 29. August 2012 lag diese noch bei 11,5 %. Neben den Verkehrsordnungswidrigkeiten hat die Polizei zudem fünf Ermittlungsverfahren wegen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und neun wegen Fahrten unter Drogen- und Alkoholeinfluss eingeleitet.
Das vergleichsweise geringere Geschwindigkeitsniveau spiegelte sich auch in der Verkehrsunfallstatistik wider. Im Zeitraum des „Blitzmarathons“ wurde kein Verkehrsunfall mit Todesopfer sowie eine überdurchschnittlich hohe Reduzierung der Gesamtzahl aller Verkehrsunfälle in Niedersachsen verzeichnet. In der 43. Kalenderwoche, in der der Blitzmarathon stattfand, wurden 507 Verkehrsteilnehmer leichtverletzt, 81 schwerverletzt und 6 getötet. Die 43. Kalenderwoche 2012 war im Vergleich zur 43. Kalenderwoche der Jahre 2009 bis 2011 die Woche mit der niedrigsten Anzahl von Personenschäden. Die 43. Kalenderwochen der Vorjahre 2009 bis 2011 weisen statistisch im Mittelwert 658 Leichtverletzte, 104 Schwerverletzte und 12 Getötete auf. Das ist ein deutlicher Hinweis auf ein verringertes Geschwindigkeitsniveau. Gleichzeitig liegt die Feststellung von nur 24 Verkehrsunfällen mit Alkoholbeeinflussung in dieser Kalenderwoche auf einem sehr niedrigen Jahreswochenvergleichswert.
Die begleitende Öffentlichkeitsarbeit durch eine mehrtägige Berichterstattung in den Medien, führte zu bundesweiter Aufmerksamkeit. Durch die vordere Platzierung in den Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender konnten die Ziele der Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden.
Zu Frage 2.:
Vor dem Hintergrund der Verkehrsunfallentwicklung in Nordrhein-Westfalen erfolgte im Oktober 2011 die Fortschreibung der Grundsatzrichtlinien polizeilicher Verkehrssicherheitsarbeit in Form der Fachstrategie Verkehrsunfallbekämpfung. Diese sind eingebettet in die Kampagne „Brems Dich – rette Leben!" und die damit unter anderem verbundenen landesweiten Geschwindigkeitskontrollen, die sogenannten 24-Stunden-Blitz-Marathons. Der gemeinsame länderübergreifende Blitzmarathon am 24. Oktober 2012 war in Nordrhein-Westfalen bereits die dritte Aktion dieser Art.
Weitere ähnliche landesweite Geschwindigkeitsüberwachungsaktionen mit begleitender Öffentlichkeitsarbeit und Bekanntgabe der Messstellen in den Medien werden in Hessen praktiziert.
Zu Frage 3.:
In einer Pressekonferenz am 19. März 2012 hat der Niedersächsische Minister für Inneres und Sport die VSI 2020 der Öffentlichkeit vorgestellt. Ein Baustein der VSI 2020 ist die Entwicklung eines internetbasierten „Gefahrenatlas“ im Rahmen der bestehenden Kooperationen. Hierbei handelt es sich um eine öffentlich zugängliche Internetseite, auf der Gefahrenstrecken mit überdurchschnittlicher Anzahl von Verkehrsunfällen mit Getöteten und Schwerverletzten in Niedersachsen dargestellt werden. Sowohl Verkehrsteilnehmer als auch Träger von Verkehrssicherheitsarbeit können sich streckenbezogen über Verkehrsgefahren informieren. Insofern werden damit nicht nur die bestehenden Maßnahmen verknüpft, sondern ergänzend die Erreichbarkeit der Verkehrsteilnehmer durch die Nutzung neuer Medien für die Öffentlichkeitsarbeit erhöht. Die Inbetriebnahme steht unmittelbar bevor. Der Betrieb erfolgt durch die Landesverkehrswacht Niedersachsen.
Die Warnung von Verkehrsteilnehmern vor Gefahrenstellen im Straßenverkehr ist unmittelbare Aufgabe der Polizei zur Gefahrenabwehr. Die Umsetzung erfolgt durch den Verkehrswarndienst. Die Bekanntgabe von Baustellen, Unfallstellen, Staubildungen, Verkehrssperrungen und -umleitungen sowie anderen Verkehrsbeeinträchtigungen im Radio und Internet dient der Abwehr von Gefahren und dem Verkehrsmanagement. Geschwindigkeitsüberwachung bekämpft eine der im Bereich des schweren Verkehrsunfallgeschehens häufige Unfallursache, indem unmittelbar und nachhaltig auf Unfall verursachendes Fehlverhalten eingewirkt wird. Beide unterschiedlich ausgerichteten Maßnahmen sind integraler Bestandteil zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der Verkehrssicherheit.