Keine rechtsfreien Räume in Hannover
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.04.2013; Fragestunde Nr. 9
Innenminister Boris Pistorius beantwortet die mündliche Anfrage des Abgeordneten Dirk Toepffer (CDU)
Der Abgeordnete hatte gefragt:
In ihrer Ausgabe vom 11. März berichtet die Hannoversche Allgemeine Zeitung unter der Überschrift „Bezirksrat befürwortet zivilen Ungehorsam“ über einen mit Mehrheit gefassten Beschluss des hannoverschen Stadtbezirksrats Linden-Limmer, der eine klare Distanzierung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele vermissen lasse.
Der Antrag der Bezirksratsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke mit dem Titel „Resolution für eine aktive und friedliche Beteiligungskultur“ war in der Bezirksratssitzung am 27. Februar mit elf Stimmen bei acht Enthaltungen angenommen worden.
In besagtem Beschluss heißt es wörtlich:
„Wir begrüßen diese aktive Beteiligungskultur ausdrücklich und wünschen uns, dass sich alle hier lebenden Menschen aktiv einbringen. Dabei ist es für uns selbstverständlich, dass die Beteiligung mit friedlichen Mitteln erfolgt. In manchen Situationen mag es Einzelnen oder Gruppen allerdings notwendig erscheinen, gegen Normen zu verstoßen, weil nur so auf öffentliche Missstände aufmerksam gemacht und Bürger- und Menschenrechte durchgesetzt werden können. Ziviler Ungehorsam ist ein wichtiges Element direkter Demokratie und legitime Form der Meinungsäußerung. Die Entscheidung zu einem Akt zivilen Ungehorsams ist eine Gewissensentscheidung und damit von jedem Einzelnen in jeder Situation selbst zu treffen. Wichtig ist, dass dieser gewaltfrei geschieht und niemals die Würde von Menschen verletzt.“
Der Beschlussfassung vorausgegangen war eine Bezirksratssitzung am 30. Januar 2013, in der die CDU-Bezirksratsfraktion eine „Resolution für gewaltfreien Protest“ zur Abstimmung gestellt hatte. Dieser Resolutionsantrag forderte „die Einwohnerinnen und Einwohner und alle, die sich am politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess im Stadtbezirk Linden-Limmer beteiligen“ dazu auf, „zur Durchsetzung ihrer Ziele und Verbreitung von Meinungen die demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätze zu achten und jeglichen Protest gewaltfrei und ohne das Begehen von Straftaten auszutragen“.
Hintergrund dieses Antrages war nach Auffassung von Beobachtern u. a. die unklare Haltung eines grünen Bezirksratsherrn zu Sachbeschädigungen in Linden-Limmer und dessen Teilnahme an der Besetzung der ehemaligen Polizeiinspektion Hannover-West 2010. Zudem war es im Jahr 2012 zu verschiedenen Anschlägen auf vermeintliche Symbole der „Gentrifizierung“ gekommen, so u. a. auf einen neuen Biomarkt und ein Eiscafé in Linden. Bei einer Demonstration gegen „Gentrifizierung“ am 22. September 2012, der sogenannte Freiraumdemo, kam es laut Onlinezeitung Hallo Linden zu einem Flaschenwurf gegen die Polizei.
An dieser Demonstration nahmen laut Onlinezeitung Hallo Linden auch der grüne Bundestagsabgeordnete Sven Kindler und ein grüner Bezirksratsherr teil, der bis zur Landtagswahl am 20. Januar Mitarbeiter des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und heutigen Landwirtschaftsministers Christian Meyer war.
Ich frage die Landesregierung:
1. Teilt die Landesregierung die Auffassung, dass Sachbeschädigungen und Hausbesetzungen als Akt „zivilen Ungehorsams“ gegen geltendes Recht verstoßen?
2. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass sich der Beschluss des hannoverschen Stadtbezirksrates Linden-Limmer vom 27. Februar 2013 ausreichend von Gewalt gegen Personen und Sachen distanziert?
3. Stimmt die Landesregierung zu, dass die Kommunalaufsicht nach § 88 NKomVG auch Beschlüsse und Entschließungen von Stadtbezirksräten darauf zu prüfen hat, ob zu Straftaten aufgefordert wird oder diese gerechtfertigt werden?
Innenminister Boris Pistorius beantwortete namens der Landesregierung die Anfrage wie folgt:
Der Stadtbezirksrat Linden-Limmer hat in seiner Sitzung am 27.02.2013 mehrheitlich eine Resolution für eine aktive und friedliche Beteiligungskultur in Linden-Limmer mit folgendem Wortlaut beschlossen:
„Linden-Limmer ist ein lebendiger Stadtbezirk, in dem Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen leben und sich sowohl für ihre eigenen Ideen und Interessen als auch für das Gemeinwohl einsetzen. Gerade diese Vielfalt und die aktive Partizipation der Einwohnerinnen und Einwohner in Fragen, die das Miteinander im Stadtbezirk betreffen, machen Linden-Limmer aus. Wir begrüßen diese aktive Beteiligungskultur ausdrücklich und wünschen uns, dass sich alle hier lebenden Menschen aktiv einbringen. Dabei ist es für uns selbstverständlich, dass die Beteiligung mit friedlichen Mitteln erfolgt.
In manchen Situationen mag es Einzelnen oder Gruppen allerdings notwendig erscheinen, gegen Normen zu verstoßen, weil nur so auf öffentliche Missstände aufmerksam gemacht und Bürger- und Menschenrechte durchgesetzt werden können. Ziviler Ungehorsam ist ein wichtiges Element direkter Demokratie und legitime Form der Meinungsäußerung. Die Entscheidung zu einem Akt zivilen Ungehorsams ist eine Gewissenentscheidung und damit von jedem Einzelnen in jeder Situation selbst zu treffen. Wichtig ist, dass dieser gewaltfrei geschieht und niemals die Würde von Menschen verletzt.“
Gemäß § 88 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes (NKomVG) hat die Hauptverwaltungsbeamtin oder der Hauptverwaltungsbeamte der Kommunalaufsicht unverzüglich über den Sachverhalt zu berichten, sofern sie oder er einen Beschluss des Stadtbezirksrats im eigenen Wirkungskreis für rechtswidrig hält. Alternativ kann sie oder er gegen den Beschluss Einspruch einlegen.
In der vom MI zu dem genannten Beschluss angeforderten Stellungnahme vom 28.03.2013 teilt die Landeshauptstadt Hannover mit, dass derzeit nicht beabsichtigt sei, Maßnahmen nach § 88 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 NKomVG zu ergreifen. Einerseits werde es als zweifelhaft angesehen, dass dieser auf eine bloße Meinungsäußerung des Stadtbezirksrats zu einer gesellschaftlich-politischen Frage (hier: bezirkliche Beteiligungskultur) gerichtete Beschluss überhaupt dem Einspruchsrecht des Hauptverwaltungsbeamten und damit seiner Rechtskontrolle nach § 88 NKomVG unterliege. Diese Vorschrift betreffe nur solche Beschlüsse, die des Vollzugs durch den Hauptverwaltungsbeamten bedürfen. Ein Vollzug sei vorliegend aber gerade nicht erforderlich, da die Meinungsäußerung keiner Ausführung bedürfe und den Hauptverwaltungsbeamten nicht zu einem Tätigwerden auffordere. Andererseits werde selbst im Falle der Annahme der Erforderlichkeit einer Prüfung des Hauptverwaltungsbeamten nach § 88 NKomVG eine Rechtswidrigkeit des Beschlusses nicht gesehen, da der Beschluss als schlichte Meinungsäußerung zu verstehen sei und weder eine Aufforderung zur Begehung einer Straftat noch einen Appell an die zuständigen Verfolgungsbehörden, derartiges Verhalten nicht zu ahnden, enthalte. In dem Beschluss werde auf die Gewissensentscheidungsfreiheit des Einzelnen abgestellt, ohne selbst zu zivilem Ungehorsam oder gar zu einer Straftat aufzurufen. Zudem enthalte der Resolutionstext keine abschließende rechtliche Bewertung der Frage der straf- bzw. ordnungsrechtlichen Ahndung sog. „zivilen Ungehorsams“.
MI schließt sich nach erfolgter Prüfung der Sach- und Rechtslage der Auffassung der Landeshauptstadt Hannover im Ergebnis an.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu Frage 1.:
Sachbeschädigungen und Hausbesetzungen als Akt „zivilen Ungehorsams“ können gegen geltendes Recht verstoßen, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen der entsprechenden Straf- bzw. Ordnungsvorschriften erfüllt sind.
Zu Frage 2.:
Auf die Vorbemerkungen wird verwiesen. Ob der Beschluss des Stadtbezirksrats Linden-Limmer vom 27.02.2013 sich ausreichend von Gewalt gegen Sachen und Personen distanziert, entzieht sich der Beurteilung durch die Landesregierung, da diese lediglich sicherzustellen hat, dass die Kommunen die geltenden Gesetze beachten.
Zu Frage 3.:
Ja.