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Bekommt die Landesregierung den politischen Extremismus in Göttingen nicht in den Griff?

Sitzung des Nds. Landtages am 9. Juni 2016; TOP 35 c) Dringliche Anfrage

Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport antwortet namens der Landesregie-

rung auf die Dringliche Anfrage der Fraktion CDU wie folgt:

Vorbemerkungen der Landesregierung auf Grundlage der Berichterstattung des Landeskriminalamtes Niedersachsen und der Polizeidirektion Göttingen:

Der Extremismus in jeglicher Form stellt die Gesellschaft, die Sicherheitsbehörden sowie den Staat allgemein vor große Herausforderungen. Daher nimmt die Landesregierung jegliche Form des Extremismus sehr ernst. Das schließt sowohl den Rechts- als auch Linksextremismus sowie den Extremismus mit Auslandsbezug ein.

Daher gehen die niedersächsischen Sicherheitsbehörden gegen politisch motivierte Kriminalität und insbesondere gegen gewaltbereite Extremisten unter Ausnutzung aller rechtlichen Befugnisse vor. Dies verdeutlicht die auf Grund der aktuellen Ereignisse in Göttingen bei der Polizeiinspektion Göttingen eingerichtete Ermittlungsgruppe. Diese soll politisch motivierte Straftaten des Phänomenbereichs PMK-links gegen Angehörige der rechten Szene sowie gegen Burschenschaften aufklären und verhindern. Neben repressiven Ansätzen werden durch die zuständigen Stellen – hier insbesondere durch den Verfassungsschutz und der Polizei – auch präventive Maßnahmen ergriffen, um der Ausbildung extremistischer Tendenzen und Erscheinungsformen bereits im Vorfeld zu begegnen, bestehende Strukturen zurückzudrängen, der Radikalisierung von Personen und Gruppen entgegenzuwirken sowie die Öffentlichkeit über die Gefahren extremistischer Bestrebungen zu informieren.

Im Gegensatz zum Rechtsextremismus existieren zum militanten Linksextremismus bundesweit bislang sehr wenige aussagekräftige sozialwissenschaftliche Analysen, zum Beispiel zu den dort stattfindenden Radikalisierungsprozessen, auf deren Grundlage wirkungsvolle Konzepte zur Prävention des Linksextremismus entwickelt werden können. Die Übertragbarkeit von Präventionsansätzen vom Rechts- auf den Linksextremismus wird kontrovers diskutiert und ist aus Sicht der Landesregierung auf Grund der diametralen Ideologien und Einstellungen der Angehörigen der jeweiligen Szene, wenn überhaupt, nur ansatzweise möglich.

Vor diesem Hintergrund hat der Niedersächsische Verfassungsschutz die aktuellen Entwicklungen im Linksextremismus in einer neuen Veranstaltungsreihe ab Herbst 2014 unter dem Titel „Aktuell und Kontrovers – Verfassungsschutz im Diskurs mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft“ thematisiert. Bereits die Auftaktveranstaltung am 30. September 2014 widmete sich der Fragestellung „Was ist Linksextremismus heute?“.

Auch die dritte Veranstaltung dieser Reihe beschäftigte sich am 1. Juli 2015 unter der Überschrift „Wie weit darf Engagement gegen Rechtsextremismus gehen?“ erneut dem Linksextremismus und versuchte u.a. der Frage nachzugehen, wann kritisches Verhalten gegen Staat und Gesellschaft in Linksextremismus umschlägt. Auch führte der Niedersächsische Verfassungsschutz am 9. Juli 2014 ein Symposium zum „Antisemitismus im extremistischen Spektrum“ durch. Einen der Schwerpunkte dieser Veranstaltung bildete der Antisemitismus in Teilen des linksextremistischen Spektrums. Bereits am 16. Oktober 2014 fand ein Symposium zu „25 Jahre nach dem Mauerfall – Vom Umgang mit der DDR-Geschichte“ statt, in dem es vor allem um die Wahrnehmung der DDR im deutschen Linksextremismus ging.

Darüber hinaus widmet sich der Niedersächsische Verfassungsschutz der Prävention im Bereich Linksextremismus auf weiteren Ebenen. Die Präventionsformate reichen von Fachvorträgen über die Beratung von Funktionsträgerinnen und -trägern in Ministerien, Landesbehörden Städten und Kommunen, die bereits genannte Veranstaltung von Symposien und Podiumsdiskussionen bis zur Publikation von Fachinformationen.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fachbereichs Linksextremismus des Niedersächsischen Verfassungsschutzes stehen als Referenten zur Verfügung und können jederzeit z. B. von Kommunen, Vereinen, Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Behörden, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen eingeladen werden. Ferner werden Projekttage, Seminare und Workshops fachlich begleitet. In Ergänzung hierzu gibt der Niedersächsische Verfassungsschutz auch Fachinformationen heraus. Gegenwärtig befindet sich ein Flyer zum Thema Linksextremismus und eine Broschüre zur Autonomen Szene in der Abstimmung.

Aus Sicht des Niedersächsischen Verfassungsschutzes ist der Linksextremismus nicht isoliert zu sehen, sondern als eine Extremismusform, die auf gesellschaftspolitische Prozesse reagiert und sich im Wechselspiel mit anderen Extremismen, insbesondere dem Rechtsextremismus, entwickelt. Der Präventionsansatz des Niedersächsischen Verfassungsschutzes trägt dem Rechnung, indem er dieses Wechselverhältnis des Linksextremismus fokussiert. Das geschieht aktuell z. B. in einem Phänomen übergreifend angelegten Projekt der Geistes- und Sozialwissenschaftler des Niedersächsischen Verfassungsschutzes, in dem die aktuellen Entwicklungen in den vom Verfassungsschutz beobachteten Extremismusfeldern im Kontext der aktuellen Flüchtlingsdebatte erforscht werden. Hier ist insbesondere das Wechselspiel zwischen Links- und Rechtsextremismus von Interesse.

Innerhalb der Präventionsstelle Politisch Motivierte Kriminalität (Präventionsstelle PMK) im LKA spielt die Prävention der politisch motivierten Kriminalität –Links auf Grund des hohen Informations- und Sensibilisierungsbedarfs zu den Phänomenbereichen Islamismus und PMK-rechts derzeit keine dominierende Rolle. Dennoch informiert die PPMK im Rahmen von Fachtagungen und Fortbildungsveranstaltungen, z. B. für Lehrer oder Bedienstete im Justizvollzug über den militanten Linksextremismus. Ferner informiert die PPMK per Rundschreiben und über einen im Aufbau befindlichen Präventionsinformationspool im Intranet die Polizeibehörden/Dienststellen zu geeigneten Publikationen/und Materialien im Bereich des militanten Linksextremismus. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die von der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) betreute Internetseite.

Seitens der Polizeiinspektion Göttingen werden Präventionsmaßnahmen auf Grundlage des weiterhin bestehenden "Handlungskonzept zur Bekämpfung der Politisch Motivierten Kriminalität - Links für den Bereich der Polizeiinspektion Göttingen" vom 6. September 2010 durchgeführt.

Neben der Durchführung von Gefährder –und Gefährdetenansprachen sieht das Konzept u. a. auch die Erstellung von Gefährdungsanalysen, die Durchführung von Schutz- und Sicherungsmaßnahmen sowie themenspezifische Vorträge des Präventionsteams der Polizeiinspektion Göttingen, teilweise zusammen mit dem Niedersächsischen Verfassungsschutz, vor.

Weiterhin wurde seitens der PI Göttingen wegen der wiederholten Angriffe auf Mitglieder von Burschenschaften und studentischer Verbindungshäuser ein Einsatzkonzept zur Verhinderung weiterer anlassbezogener Straftaten erstellt.

Das Niedersächsische Kultusministerium ist in vielerlei Hinsicht im Feld der Extremismusprävention aktiv und unterstützt eine Reihe von Projekten und Programmen. Dies sind insbesondere Maßnahmen der primären Prävention, die alle Schülerinnen und Schüler adressieren und auf die Stärkung erwünschter demokratischer Haltungen hinwirken und das bedeutet die Stärkung von Partizipation, Teilhabe, Toleranz, Weltoffenheit und Wertschätzung. Solche Maßnahmen richten sich gegen jede Form von Extremismus und Radikalisierung, schließen also den Rechts- und Linksextremismus sowie den religiösen Extremismus mit ein. Verschiedene Studien haben herausgearbeitet, dass die Ursachen, die zu einer Radikalisierung führen können, in allen genannten Phänomenbereichen des Extremismus oftmals ganz ähnliche sind, nämlich Erfahrungen des persönlichen Scheiterns in verschiedenen Lebensbereichen, fehlende oder brüchige soziale oder familiäre Bindungen, Wahrnehmungen der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Entfremdung sowie allgemein Probleme bei der Herausbildung einer gefestigten Identität. Tatsächliche oder subjektiv so empfundene Ausgrenzungs- oder gar Ablehnungserfahrungen sind erfahrungsgemäß ein günstiger Nährboden für Separierung, Segregation und Radikalisierung.

Damit es an den Schulen gar nicht erst zur Radikalisierung von Schülerinnen und Schülern kommt, ist demnach alles dafür zu tun, dass sich alle Kinder und Jugendlichen von Beginn an zugehörig fühlen, dass sie teilhaben und sich einbringen können. Die Schule ist dafür der am besten geeignete Ort, da hier alle jungen Menschen über einen relativ langen Zeitraum beständig ansprechbar sind. Für Präventionsarbeit gleich welcher Art sind dort also ideale Voraussetzungen gegeben. Dem Bildungsauftrag der Schule entsprechend sind die Kerncurricula aller Fächer und aller Schulformen darauf ausgelegt, zu einer Werteorientierung im Sinne der Verfassung beizutragen. Demokratiebildung ist so in vielen Kerncurricula auf unterschiedliche Art und Weise implementiert.

Darüber hinaus fungiert das Niedersächsische Kultusministerium etwa als Landeskoordination des bundesweiten Schulprojekts „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, das sich seit Jahren darin bewährt, jungen Menschen die Werte der Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Offenheit, Vielfalt und Toleranz nahezubringen und sie für die Gefahren der Diskriminierung, der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, des Rassismus und der vermeintlichen Problemlösung mit Mitteln der Gewalt zu sensibilisieren. Die angewendeten Methoden und Inhalte decken in ihrer Breite und Vielfalt einen großen Teil des Spektrums moderner, zeitgemäßer Demokratieerziehung und Extremismus- sowie Radikalisierungsprävention ab. Dies trifft auch auf das landesweite Netzwerk der UNESCO-Projektschulen zu. Zusammen mit der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung (AEWB) führt das Niedersächsische Kultusministerium seit 2015 den Aktionstag „Schulen für Demokratie“ durch. Ziel ist die Unterstützung und Entwicklung von Demokratiebildung und gelebter Demokratie in und außer-halb der Schule. Schulen arbeiten hier zusammen mit Erwachsenenbildungseinrichtungen.

Das Niedersächsische Kultusministerium kooperiert darüber hinaus mit der Leibniz Universität Hannover, die ein Fortbildungsprogramm „Demokratische Schule“ zur Stärkung der Demokratiekompetenzen für Lehrkräfte anbietet.

Der Landespräventionsrat und damit das dort ansässige Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen beschäftigt sich mit der Prävention von demokratie- und menschenfeindlichen Einstellungen und Verhaltensweisen. Dabei stehen derzeit primär die Prävention von gewaltorientiertem Salafismus und Rechtsextremismus im Vordergrund. Diesen Aufgaben kommen der Landespräventionsrat und das Landes-Demokratiezentrum gemäß der Anfragen der Partnerschaften für Demokratie, der kommunalen Präventionsgremien, der Mitglieder des Landespräventionsrates und weiterer Institutionen und Organisationen in Niedersachsen nach. Derzeit liegen dort lediglich Anfragen zu den oben genannten Bereichen (gewaltorientierter Salafismus und Rechtsextremismus) vor. Sollte es Anfragen in diesem Bereich geben, sind der Landespräventionsrat und das Landes-Demokratiezentrum umgehend dazu in der Lage, angepasste Präventionsansätze bereitzustellen.

Zu Frage 1:

Welche Vorfälle mit welchem Verlauf sind der Landesregierung aus dem Rechtsextremismus in Göttingen bekannt? Für den Bereich Göttingen liegen dem Niedersächsischen Verfassungsschutz für den Zeitraum 2014 bis heute lediglich eine Erkenntnis über eine in einem Internetbeitrag vom 25. Oktober 2015 auf der Seite www.der-dritte-weg.info behauptete Verteilung von Flugblättern der Partei „Der III. Weg“ vor. Ob und in welchem Umfang diese tatsächlich stattgefunden hat, kann nicht verifiziert werden. Strukturen der Partei existieren in Göttingen nicht.

Die extremistische Kriminalität bildet einen Teilbereich der Politisch motivierten Kriminalität ab und umfasst Straftaten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie u. a. gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Die Einstufung der Taten als extremistisch erfolgt auf Basis des Extremismusbegriffs der Verfassungsschutzbehörden durch die polizeilichen Staatsschutzdienststellen. Die endgültige Bewertung obliegt dem Verfassungsschutz Niedersachsen.

72 Taten der politisch motivierten Kriminalität Rechts wurden für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 6. Juni dieses Jahres in Göttingen polizeilich bekannt, davon wurden 69 Delikte als rechtsextremistische Tat klassifiziert. Beim überwiegenden Teil der extremistischen Delinquenz handelt es sich insgesamt 56 Taten es sich zum überwiegenden Teil um die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzungen. Daneben wurden 4 Sachbeschädigungen, 3 Körperverletzungsdelikte sowie 5 Beleidigungen und 1 Widerstandsdelikt begangen.

Hiervon konnten in 34 Fällen insgesamt 44 Tatverdächtige ermittelt werden.

Zu Frage 2:

Welche Vorfälle mit welchem Verlauf sind der Landesregierung aus dem Linksextremismus in Göttingen bekannt?

Ausweislich der Berichte des Niedersächsischen Verfassungsschutzes liegt seit Jahrzenten ein Schwerpunkt der niedersächsischen autonomen Szene in Göttingen.

Darüber hinaus befindet sich in Göttingen mit dem Jugendzentrum Innenstadt (JuzI), ein sogenanntes Autonomes Zentrum.

Hierbei handelt es sich um eine selbstverwaltete und unabhängige kulturelle und soziopolitische Einrichtung, welche Linksextremisten auch als Rückzugsraum zur Planung politischer Agitation und (gewalttätiger) Aktionen dient. Seit dem Jahr 2014 ist es in Göttingen bzw. im Raum Göttingen zu erheblichen Straftaten mit möglicherweise linksextremistischer Motivation gekommen. So wurde am 5. Mai 2014 der Privat-Pkw eines Polizeibeamten der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) in Brand gesetzt. Die in Göttingen ansässige BFE findet im linken Spektrum eine starke Thematisierung.

Im Jahr 2015 kam es in Göttingen bzw. im Raum Göttingen zu einer Reihe von Brandstiftungen an Pkws von Personen, die von der linksextremistischen Göttinger Szene dem Rechtsextremismus zugerechnet werden und zu Brandanschlägen auf Gebäude. Bei einigen der Brandstiftungen konnten im direkten Umfeld des Tatortes die gesprühten Symbole „Hammer und Sichel“ festgestellt werden.

Dieses Symbol wurde neben einem weiteren Schriftzug ebenfalls auf der Hauswand der Studentenverbindung Corps Hannovera in Göttingen aufgefunden. Auf dem Gelände wurde durch unbekannte Täter am 17. April 2016 ein Schuppen neben dem Haus in Brand gesetzt. Dieser Brand schlug auch auf das benachbarte Wohngebäude über. Der Modus Operandi und die aufgesprühte Hammer-und-Sichel-Symbolik lassen auf einen linksextremistischen Hintergrund schließen.

Darüber hinaus ist es seit 2014 in Göttingen immer wieder zu Übergriffen auf einzelne Verbindungsstudenten sowie zu Sachbeschädigungen und Farbschmierereien an Gebäuden von Studentenverbindungen und Parteibüros gekommen, bei denen ein möglicher linksextremistischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann; klare Belege oder Bekennerschreiben liegen allerdings zu keiner dieser Straftaten vor.

Insgesamt wurden in Göttingen vom 1. Januar 2014 bis zum 6. Juni dieses Jahres 230 politisch motivierte Straftaten im Phänomenbereich Links polizeilich registriert. 74 dieser Taten wurden als extremistisch eingestuft. Darunter befinden sich 3 Branddelikte, 1 Raubstraftat, 15 Körperverletzungsdelikte, 36 Sachbeschädigungen, 1 Widerstandsdelikt, 2 Nötigungen, jeweils einen Land- und Hausfriedensbruch, 9 Verstöße gegen das Vereinsgesetz sowie vereinzelte andere Taten. Von den extremistischen Taten konnten 15 aufgeklärt werden, wobei 28 Tatverdächtige ermittelt wurden.

Zu Frage 3:

Welche neue konzeptionelle Planung der Prävention im Bereich Linksextremismus hat die Landesregierung seit Amtsantritt vorgenommen?

Auf die Vorbemerkungen wird verwiesen.

Presseinformation

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erstellt am:
09.06.2016

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