Beantwortung der Mündl. Anfrage der SPD zur Bewegung der sog. „Reichsbürger“
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 17. Dezember 2015; Fragestunde Nr. 8
Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport antwortet namens der Landesregierung auf die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Marco Brunotte (SPD) wie folgt:
Vorbemerkung des Abgeordneten
Die Bewegung der „Reichsbürger“ geht davon aus, dass das „Deutsche Reich“ bis heute völkerrechtlich fortbestehe. Die „Weimarer Reichsverfassung“ bestehe weiter, da sie weder von Nationalsozialisten noch von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschafft worden sei. Somit könne die BRD nicht bestehen und habe keine Souveränität. Nach dieser Theorie sei Deutschland noch immer von den Alliierten besetzt und befinde sich im Kriegszustand. Gesetze und Gerichte seien deshalb ebenso unrechtmäßig wie erhobene Steuern. Zu den Anhängern der „Reichsideologie“ gehören Rechtsextreme, „Anhänger ideologisch bedingter Wahnvorstellungen“ (Amtsgericht Duisburg 2006) und Personen, die finanzielle Absichten und Ziele verfolgen.
Die Hannoversche Allgemeine Zeitung berichtete am 10. Oktober 2015 unter der Überschrift „Reichsbürger nerven Justiz in Niedersachsen“ von Übergriffen aus der Bewegung auf Gerichtsvollzieher. Auch Gerichte und Steuerbehörden berichten von Problemen. So würden Mitglieder der Vereinigung eigene Führerscheine ausstellen, Kennzeichen fälschen, Bußgelder und Steuern verweigern, Rundfunkgebühren ablehnen und staatliche Bedienstete bedrängen. Mit einem „Reichsgeheimdienst“ sollen diese Aktivitäten der Bewegung unterstützt werden.
Am 8. Mai 2004 wurde in Hannover von 26 Personen die „Exilregierung Deutsches Reich“ gegründet, die der Bewegung der „Reichsbürger“ zuzurechnen ist. Sie fordert u. a. die Wiederherstellung der deutschen Grenzen von 1914.
Der Musiker Xavier Naidoo trat am 3. Oktober 2014 bei einer Veranstaltung der „Reichsbürger“ vor dem Bundeskanzleramt in Berlin auf. Der NDR wollte ihn trotzdem als Vertreter Deutschlands zum „Eurovision Song Contest“ schicken - für einen Staat, der nach Überzeugung der „Reichsbürger“ gar nicht existiert. Nach massiver Kritik wurde von dem Plan Abstand genommen.
Anfang Dezember 2015 wurde ein Aktivist der „Reichsbürger“-Bewegung vor dem Kanzleramt festgenommen, nachdem er im Internet an das „Kampfkommando Staufenberg“ appelliert hatte: „Überprüft auch die Panzerfäuste, damit uns da morgen nichts schief läuft“.
Vorbemerkung der Landesregierung
Der Niedersächsische Verfassungsschutz beobachtet im Rahmen der ihm nach dem Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz zugewiesenen Aufgaben Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.
Die Eingriffsschwelle für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist gesetzlich klar festgelegt und damit verbindlich für die Arbeit des Verfassungsschutzes. Demnach müssen tatsächliche Anhaltspunkte (§ 5 Abs. 1 NVerfSchG) für eine extremistische Bestrebung vorliegen. Dabei ist für eine entsprechende Zuordnung einer Organisation das Gesamtbild der Organisation maßgebend, d.h. das Zusammenspiel personeller, institutioneller und programmatischer Faktoren, die für ihre Ausrichtung und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit prägend sind. Es reicht infolgedessen nicht aus, die Beobachtung einer Organisation nur auf bedenkliche Verlautbarungen eines einzelnen (führenden) Funktionsträgers zu stützen. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in oder für einen Personenzusammenschluss handeln, sind nach § 4 Abs. 1 Satz 3 NVerfSchG nur dann Bestrebungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NVerfSchG, wenn sie auf Anwendung von Gewalt gerichtet oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut des NVerfSchG erheblich zu beschädigen.
Die sogenannte „Reichsbürger-Bewegung“ ist in ihrer Gänze kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden. Sie setzt sich vielmehr aus autark handelnden Einzelpersonen sowie Gruppierungen zusammen, die sich in ihrem Wesen zum Teil deutlich unterscheiden. Das Spektrum reicht von politisch interessierten Trachtenvereinen über esoterisch geprägte Gruppen bis hin zu rechtsextremistisch motivierten Personenzusammenschlüssen, die der Beobachtung durch den Verfassungsschutz unterliegen. Allen Erscheinungsformen ist gemein, dass sie die Legitimität der Bundesrepublik negieren und den Fortbestand des Deutschen Reiches propagieren, dessen Vertretungsrecht sie für sich reklamieren. Teilweise werden zusätzlich revisionistische und antisemitische Positionen vertreten, die eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigen.
Einige der Protagonisten behaupten mit pseudojuristischen Argumenten, sie selbst seien Vertreter des „Deutschen Reiches“. Der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Verfassung und ihren demokratisch gewählten Repräsentanten wird dagegen jegliche Legitimation abgesprochen. In vielen Fällen handeln lediglich Einzelpersonen, die vorgeben, eine oder gar mehrere strukturierte Organisationen zu vertreten und zudem unter wechselnden Namen und mit mehrfachen bzw. wechselnden Internetpräsenzen auftreten.
Angehörige der verschiedenen Kleinstgruppierungen weisen sich teilweise auch durch Phantasiepapiere, wie z. B. „Reichsausweise“, aus und vergeben Pseudo-Ämter, wie „Reichskanzler“, „Reichsminister“ etc. Daneben werden auch amtlich anmutende Schreiben bzw. „Verfügungen“ versandt.
Andere Gruppierungen treten als Hilfsgemeinschaften für angebliche Justizopfer auf. Sie erkennen das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht an und suggerieren den Bürgern, dass sie sich z. B. nicht der bestehenden Gerichtsbarkeit unterwerfen oder Steuern zahlen müssten. Gegen Geld bieten sie Bürgern „Rechtsbeistand“ bei Gerichtsverfahren (vorwiegend Zwangsvollstreckungsverfahren) an, treten als Störer bei Gerichtsprozessen auf oder widersetzen sich der Zwangsvollstreckung.
1. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über Strukturen und Aktivitäten der „Reichsbürger“ in Niedersachsen?
In Niedersachsen ist aus dem gesamten Spektrum die „Exilregierung Deutsches Reich“ als Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes eingestuft. Ihr gehören ca. 25 Mitglieder an. Sie verfügt über verfestigte Strukturen. Die Aktivitäten beschränken sich auf regelmäßige Treffen und gelegentliche Ausflüge. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten gehen von der „Exilregierung“ nicht aus.
Bei den seit 2003 in Niedersachsen eingeleiteten Ermittlungsverfahren handelt es sich im Wesentlichen um Urkundenfälschung gem. § 267 StGB, Verunglimpfung des Bundespräsidenten gem. § 90 StGB, Volksverhetzung (§ 130 StGB) sowie Amtsanmaßung gem. § 132 StGB. Weiterhin wurden diverse Ordnungswidrigkeitenverfahren gem. § 124 OWiG (Benutzen von Wappen oder Dienstflaggen) eingeleitet.
Die im Juni 1995 gegründete und in Verden (Aller) ansässige, ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtete Vereinigung „Freistaat Preußen“ gehört nicht zum engeren Kreis der „Reichsbürger“. Der Freistaat Preußen ist in einer tradierten rechtsextremistischen Weise geschichts- und gebietsrevisionistisch ausgerichtet. Seine Aktivitäten beschränken sich derzeit auf die Herausgabe der Publikation „Stimme des Reiches“, in der regelmäßig antisemitische, volksverhetzende und systemfeindliche Artikel erscheinen. Bei der Vereinigung „Freistaat Preußen“ handelt es sich um einen Kreis von Personen, welche bereits teilweise als sogenannte „Reichsbürger“ in Erscheinung traten.
2. Wie schätzt die Landesregierung die „Reichsideologie“ ein?
Siehe Vorbemerkung.
3. Ist die Bewegung der „Reichsbürger“ Beobachtungsobjekt beim niedersächsischen Verfassungsschutz?
Siehe Vorbemerkung.
Artikel-Informationen
erstellt am:
17.12.2015