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Beantwortung der Mündl. Anfrage der GRÜNEN zu Schutz vor Gewalt in Erstaufnahmeeinrichtungen

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 17. Dezember 2015; Fragestunde Nr. 5

Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport antwortet namens der Landesregierung auf die Mündliche Anfrage der Abgeordneten Elke Twesten (GRÜNE) wie folgt:

Vorbemerkung der Abgeordneten

Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Die UNO geht davon aus, dass mindestens 50 Prozent aller Flüchtlinge Frauen und Mädchen sind. Frauen fliehen wie Männer wegen Unterdrückung und Verfolgung, aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen.

Ein erheblicher Teil dieser Geflüchteten, die in Deutschland Schutz suchen, haben schon in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen gemacht, sind Opfer von Krieg und Gewalt, Misshandlungen und Übergriffen geworden. Ihre besondere Situation muss berücksichtigt werden, und sie dürfen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften keinen weiteren Gefährdungen ausgesetzt werden.

Menschen, die in ihren Herkunftsländern oder bereits auf der Flucht Opfer von Gewalt geworden sind oder von ihr bedroht waren, laufen besondere Gefahr, wieder Opfer von Gewalt zu werden.

Im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt wird auch immer wieder auf die besondere Verletzbarkeit von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Trans- und Intersexuellen Menschen (LSBTTI) hingewiesen.

Diversen Berichten zufolge erfahren Frauen, Kinder und LSBTTI auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften in Deutschland geschlechtsspezifische Gewalt und sexuelle Belästigung bis hin zu Vergewaltigungen.

Laut der Organisation „Women in Exile“ gibt es in den Flüchtlingsunterkünften „keine Frau, die nicht eine Geschichte von aufdringlichen Blicken, widerlichen Kommentaren, unerwünschtem Anfassen oder Vergewaltigung erzählen könnte“ (focus online 26.11.2015). Auch wird berichtet, dass Frauen sich in Aufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften aus Angst nachts nicht mehr auf die Toilette trauen. Die Landesregierung gab in ihrer Antwort auf eine Anfrage aus der FDP-Fraktion (Drucksache 17/4430) im Oktober an, dass auch in Niedersachsen „strafrechtlich relevante Sachverhalte gegen die sexuelle Selbstbestimmung bekannt geworden“ sind.

Die Dunkelziffer liegt nach Schätzungen von Experten um ein Vielfaches höher.

Die taz beklagt in ihrer Ausgabe vom 24. September, dass die Bundesländer Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein keine „Handlungskonzepte gegen sexualisierte Gewalt in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften“ hätten (taz 24. September 2015). Einige Bundesländer haben daraufhin Hilfsangebote für missbrauchte Flüchtlingsfrauen und frauenspezifische Einrichtungen zum Schutz von allein reisenden Frauen mit und ohne Kinder geschaffen. Niedersachsen plant aktuell, ein ausschließlich für Frauen und Kinder vorgesehenes Flüchtlingsheim in Dassel im Solling einzurichten.

Last but not least hat auch der Landesfrauenrat Niedersachsen die Landesregierung und die Kommunen aufgefordert, die besondere Situation von Frauen auf der Flucht zu beachten und eine angemessene Versorgung sicherzustellen. Insbesondere die Unterbringung müsse nach anerkannten Konzepten zur Gewaltprävention erfolgen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Röhrig, ist vor allem wegen der Kinder beunruhigt: „Ich bin in größter Sorge, dass die vielen Kinder in Flüchtlingsunterkünften nicht ausreichend vor sexueller Gewalt geschützt sind.“ Deswegen hat Röhrig bereits im August eine Checkliste an Mindeststandards für die Prävention von sexualisierter Gewalt vorgelegt (u. a. PM 19. August 2015).

Vorbemerkung der Landesregierung

Angesichts der historischen Flüchtlingssituation stehen die Länder und die Kommunen vor einer großen Herausforderung. Oberstes Ziel ist in der gegenwärtigen Situation, den bei uns Zuflucht suchenden Menschen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. Dank des hervorragenden Engagements der Hilfsorganisationen, der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und der Verantwortlichen in den Kommunen und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) wird diese Herausforderung täglich gemeistert und es gelingt, die derzeit bis zu 1.000 täglich in Niedersachsen eintreffenden Flüchtlinge zu versorgen.

Vor dem Hintergrund dieser besonderen Aufgaben ist unstrittig, dass die hier ankommenden Menschen auch in den Aufnahmeeinrichtungen ein Mindestmaß an Schutz benötigen. Dies gilt insbesondere für Minderjährige und Frauen, für die Schutz vor Misshandlung und Gewalt gewährleistet werden muss. Neben der Prävention vor diesen Taten ist ebenso die Hilfe für Betroffene von Gewalt von besonderer Bedeutung. Minderjährige und weibliche Flüchtlinge haben aufgrund ihrer Vulnerabilität im Herkunftsland und auf der Flucht zum Teil erhebliche Gewalt erleben müssen und sind häufig traumatisiert. Es ist in besonderem Maße geboten, sie in den Aufnahmeeinrichtungen vor weiterer Gewalt zu schützen.

Die in Niedersachsen für die Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge zuständigen Stellen berücksichtigen daher im Rahmen der Möglichkeiten deren besonderen Belange und Interessen. Im Rahmen des Erstgesprächs, das in der Regel unmittelbar nach der Aufnahme in den Standorten der Erstaufnahmeeinrichtungen LAB NI vom Sozialdienst mit jedem Flüchtling geführt wird, werden gerade besonders schutzbedürftige Flüchtlinge sehr sensibel behandelt. Geeignete Einrichtungen zu finden, in denen diese Personen auch nach ihrer Verteilung in die Kommunen sicher und diskriminierungsfrei untergebracht werden können, ist dabei sehr wichtig. Bei der Unterbringung der Flüchtlingsfrauen und -familien wird die individuelle Situation im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt. Schutzsuchende Frauen und ihre Kinder finden in Niedersachsen in allen zur Verfügung stehenden Einrichtungen Schutz und die erforderlichen Hilfeleistungen einschließlich der notwendigen medizinischen Betreuung.

Die Niedersächsische Landesregierung tritt für die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ein und unterstützt die Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Sie setzt sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür ein, dass verfolgte Angehörige dieses Personenkreises Zuflucht in unserem Land erhalten und mit ihren Interessen und Anliegen angemessen und respektvoll umgegangen wird. Dies umfasst auch die Unterbringungspraxis an den Standorten der LAB NI.

1. Wie viele Fälle mit eindeutigem Bezug auf sexuelle Gewalt sind aus den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften in den Jahren 2013, 2014 und 2015 gemeldet worden?

Recherchen mit dem Ziel der flächendeckenden Abbildung von Straftaten gegen Asylbegehrende sind weder in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) noch im polizeilichen Auswertesystem NIVADIS ohne Weiteres möglich. Für eine dementsprechende Auswertung der angesprochenen Straftaten gegen Flüchtlinge im Kontext „Sexuelle Gewalt“ müssten alle Flüchtlingsunterkünfte erhoben und (als Wohnort des Opfers) einzeln abgefragt werden. Eine entsprechende Auswertung ist bislang nicht erfolgt. Sie bedingt einen außergewöhnlich hohen Rechercheaufwand auch vor dem Hintergrund der nicht unerheblichen Anzahl von entsprechenden Unterkünften.

Die niedersächsische Polizei etablierte Anfang November 2015 landesweit einen zusätzlichen Auswertungsmerker im elektronischen Vorgangsbearbeitungssystem NIVADIS. Mithilfe dieses Auswertungsmerkers soll die Erstellung aussagekräftiger Kriminalitätslagebilder zukünftig verbessert werden. Durch die vorgenannte Funktion werden Straftaten gegen Flüchtlinge, so auch Delikte im Kontext „Sexuelle Gewalt“, zielgerichteter ausgewertet werden können, sofern das Opfer als Flüchtling erfasst wurde. Eine retrograde Auswertung im Zusammenhang mit Straftaten, die vor der Einführung des Auswertungsmerkers begangen wurden, ist nicht möglich.

2. Welche besonderen Konzepte gegen Gewalt an Frauen und Kindern in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften hat die Landesregierung in den vergangenen Monaten entwickelt, und welche weiteren frauenspezifischen Unterbringungsmöglichkeiten und Hilfsangebote sind geplant?

Es ist der Landesregierung ein großes Anliegen, sicherzustellen, dass insbesondere bei der Unterbringung der Flüchtlingsfrauen und -familien die individuelle Situation im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt wird. Mit dem gemeinsam von MI und MS erarbeiteten und derzeit in der Endabstimmung befindlichen „Konzept zum Kinderschutz und Gewaltschutz für Frauen in Aufnahmeeinrichtungen des Landes für Asylbegehrende und Flüchtlinge“ wurden Empfehlungen zum Schutz von Kindern und Frauen vor Misshandlung und Gewalt in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes erarbeitet. Hierdurch wird der derzeitigen Situation Rechnung getragen, um wirksame aber auch realitätstüchtige Maßnahmen treffen zu können.

Mit der Inbetriebnahme der Außenstelle des Standortes GDL Friedland der LAB NI in Dassel hat die Landesregierung die Möglichkeit geschaffen, allein reisende Frauen mit oder ohne Kinder in einer besonderen Einrichtung unterzubringen.

3. In welcher Weise sorgt die Landesregierung dafür, dass die Mindeststandards des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, die vor allem Kinder vor sexueller Gewalt schützen sollen, in niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften dem Personal und den Bewohnern bekannt sind und eingehalten werden, und wie wird dem besonderen Schutzbedürfnis von Frauen und Mädchen Rechnung getragen ?

Die derzeitige Situation in den Erstaufnahmeeinrichtungen einschließlich der eingerichteten Notunterkünfte stellt alle Akteure vor große Herausforderungen. Es ist der Landesregierung ein großes Anliegen, sicherzustellen, dass bei der Unterbringung der Flüchtlingsfrauen und -familien, insbesondere der Kinder die individuelle Situation im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt wird. Im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist leider grundsätzlich von einem größeren Dunkelfeld auszugehen. Das in den Einrichtungen hauptamtlich tätige Personal ist grundsätzlich fachlich ausgebildet und sensibilisiert. Bei den im Rahmen der Kinderbetreuung an den Standorten der LAB NI tätigen Personen handelt es sich um pädagogische Fachkräfte, die ihre Eignung u.a. auch durch die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses nachweisen müssen. Die einzelnen Dienste innerhalb der Einrichtungen arbeiten kontinuierlich und vertrauensvoll zusammen, so dass ein entsprechender Austausch, beim Erkennen von Signalen erfolgen kann und rechtzeitige Hilfen möglich sind.

Auch für Gewaltbetroffene in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes steht das Netzwerk der Gewaltberatungsstellen zur Verfügung. An die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die ehrenamtlich Tätigen in Aufnahmeeinrichtungen des Landes sind aktuell Informationsmaterialien zum existierenden Hilfesystem des Gewaltschutzes für Frauen versandt worden. Mehrsprachiges Informationsmaterial für Betroffene wurde zur Verfügung gestellt.

Es ist beabsichtigt, den Einrichtungen des Gewaltschutzes für Frauen finanzielle Hilfe bei der Inanspruchnahme von Übersetzungsleistungen für die Beratung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen.

Presseinformation

Artikel-Informationen

erstellt am:
17.12.2015

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