Beantwortung der Mündl. Anfrage der CDU zu familiärer Gewalt in Flüchtlingsunterkünften
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 17. Dezember 2015; Fragestunde Nr. 31
Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport antwortet namens der Landesregierung auf die Mündliche Anfrage der Abgeordneten Petra Joumaah, Angelika Jahns und Editha Lorberg (CDU) wie folgt:
Vorbemerkung der Abgeordneten
Der Landesfrauenrat Niedersachsen befasste sich in einer Resolution vom 9. Oktober 2015 mit dem Gewaltschutz von geflüchteten Frauen und Kindern. Darin forderte er die Landesregierung und die Kommunen auf, die besondere Situation weiblicher Flüchtlinge zu beachten. So müsse Frauen und Kindern in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften Schutz vor Übergriffen durch Männer garantiert werden. Ferner müssten geschützte Räume und Rückzugsmöglichkeiten für Frauen geschaffen werden.
In der Ausgabe 6/2015 der Zeitschrift proPOLIZEI des Innenministeriums wird in einem Artikel über offene Fragen bei häuslicher Gewalt in Flüchtlingsunterkünften berichtet. Darin wird das Problem geschildert, dass seit 2002 zwar grundsätzlich bei häuslicher Gewalt derjenige, der geschlagen hat, gehen müsse. Dies sei in Flüchtlingsunterkünften jedoch nicht möglich.
Auch sei laut Bericht in proPOLIZEI der Schutz von Opfern in Massenunterkünften vom dortigen Personal nicht sicherzustellen, wenn die Opfer vor Ort blieben. Es sei daher einfacher und auch kein Problem, Opfer zum eigenen Schutz im Frauenhaus oder an anderen sicheren Orten unterzubringen.
Vorbemerkung der Landesregierung
Angesichts der historischen Flüchtlingssituation stehen die Länder und die Kommunen vor einer großen Herausforderung. Oberstes Ziel ist in der gegenwärtigen Situation, den bei uns Zuflucht suchenden Menschen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. Dank des hervorragenden Engagements der Hilfsorganisationen, der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und der Verantwortlichen in den Kommunen und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) wird diese Herausforderung täglich gemeistert und es gelingt, die derzeit bis zu 1.000 täglich in Niedersachsen eintreffenden Flüchtlinge zu versorgen.
Vor dem Hintergrund dieser besonderen Aufgaben ist unstrittig, dass den hier ankommenden Menschen auch in den Aufnahmeeinrichtungen Schutz gewährt wird. Dies gilt insbesondere für Minderjährige und Frauen, für die Schutz vor Misshandlung und Gewalt gewährleistet werden muss. Neben der Prävention vor diesen Taten ist ebenso die Hilfe für Betroffene von Gewalt von besonderer Bedeutung. Minderjährige und weibliche Flüchtlinge haben aufgrund ihrer Vulnerabilität im Herkunftsland und auf der Flucht zum Teil erhebliche Gewalt erleben müssen und sind häufig traumatisiert. Es ist in besonderem Maße geboten, sie in den Aufnahmeeinrichtungen vor weiterer Gewalt zu schützen.
Die derzeitige Unterbringungssituation der Flüchtlinge birgt insbesondere bei Gewaltvorfällen in Paarbeziehungen besondere Herausforderungen. Neben einer konsequenten Strafverfolgung ist die in Fällen häuslicher Gewalt bewährte Praxis einer gefahrenabwehrenden Trennung von Opfer und Täterin oder Täter handlungsleitend. Aufgrund der unterschiedlichen Größen und baulichen Gegebenheiten der Flüchtlingsunterkünfte wird diese Trennung vor Ort oder durch Verlegung in eine andere Einrichtung angestrebt. Gegebenenfalls führt die Entfernung des Täters oder der Täterin nicht zu der beabsichtigten Gefahrenminderung für das Opfer. Dies ist insbesondere in den Fällen denkbar, in denen neben dem Täter oder der Täterin noch weitere Familienmitglieder des Täters oder der Täterin in der Unterkunft leben und dadurch die Möglichkeit haben, auf das Opfer einzuwirken. In diesen Fällen kann die Unterbringung des Opfers in einer anderen Einrichtung oder in einem Frauenhaus angezeigt sein.
Die in Niedersachsen für die Aufnahme und Unterbringung zuständigen Stellen berücksichtigen im Rahmen der Möglichkeiten die besonderen Belange und Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner. Im Rahmen des Erstgesprächs, das in der Regel unmittelbar nach der Aufnahme in den Standorten der LAB NI vom Sozialdienst mit jedem Flüchtling geführt wird, werden gerade besonders schutzbedürftige Flüchtlinge sehr sensibel behandelt. Geeignete Einrichtungen zu finden, in denen diese Personen auch nach ihrer Verteilung in die Kommunen sicher und diskriminierungsfrei untergebracht werden können, ist dabei sehr wichtig. Bei der Unterbringung der Flüchtlingsfrauen und -familien wird die individuelle Situation im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt. Schutzsuchende Frauen und ihre Kinder finden in Niedersachsen in allen zur Verfügung stehenden Einrichtungen Schutz und die erforderlichen Hilfeleistungen einschließlich der notwendigen medizinischen Betreuung.
1. Wie viele Fälle häuslicher oder - hier richtiger formuliert - familiärer Gewalt und von Gewalt durch andere Mitbewohner in Flüchtlingsunterkünften sind der Landesregierung bekannt?
Recherchen mit dem Ziel der flächendeckenden Abbildung von Straftaten gegen Asylbegehrende sind weder in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) noch im polizeilichen Auswertesystem NIVADIS ohne weiteres möglich.
Für eine dementsprechende Auswertung der angesprochenen Straftaten gegen Flüchtlinge im Kontext „Häusliche Gewalt“ müssten alle Flüchtlingsunterkünfte erhoben und (als Wohnort des Opfers) einzeln abgefragt werden. Eine entsprechende Auswertung ist bislang nicht erfolgt. Sie bedingte einen außergewöhnlich hohen Rechercheaufwand auch vor dem Hintergrund der nicht unerheblichen Anzahl von entsprechenden Unterkünften.
Die niedersächsische Polizei etablierte Anfang November 2015 landesweit einen zusätzlichen Auswertemerker im elektronischen Vorgangsbearbeitungssystem NIVADIS.
Mithilfe dieses Auswertemerkers soll die Erstellung aussagekräftiger Kriminalitätslagebilder zukünftig verbessert werden.
Durch die vorgenannte Funktion werden Straftaten gegen Flüchtlinge, so auch Delikte im Kontext „Häusliche Gewalt“, zielgerichteter ausgewertet werden können, sofern das Opfer als Flüchtling erfasst wurde. Eine retrograde Auswertung im Zusammenhang mit Straftaten, die vor der Einführung des Auswertemerker begangen wurden, ist nicht möglich.
2. Wie oft wurden bislang Frauen und Kinder aus Flüchtlingsunterkünften wegen der o. a. Gewalt in Frauenhäusern untergebracht?
Bezogen auf das Jahr 2015 wurden vom Standort der LAB NI in Bramsche zwei Frauen mit jeweils zwei Kindern, vom Standort Braunschweig ebenfalls zwei Frauen sowie eine Frau mit ihren zwei Kindern vom Standort GDL Friedland in örtlichen Frauenhäusern untergebracht.
Weitere Unterbringungsfälle sind nicht bekannt.
3. Was tut die Landesregierung, um die Forderung des Landesfrauenrates zum Gewaltschutz geflüchteter Frauen und Kinder zu erfüllen?
Es ist der Landesregierung ein großes Anliegen sicherzustellen, dass insbesondere bei der Unterbringung der Flüchtlingsfrauen und -familien die individuelle Situation im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt wird. Mit dem gemeinsam von MI und MS erarbeiteten und derzeit in der Endabstimmung befindlichen „Konzept zum Kinderschutz und Gewaltschutz für Frauen in Aufnahmeeinrichtungen des Landes für Asylbegehrende und Flüchtlinge“ wurden Empfehlungen zum Schutz von Kindern und Frauen vor Misshandlung und Gewalt in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes erarbeitet. Hierdurch wird der derzeitigen Situation Rechnung getragen, um wirksame aber auch realitätstüchtige Maßnahmen treffen zu können.
Mit der Inbetriebnahme der Außenstelle des Standortes GDL Friedland der LAB NI in Dassel hat die Landesregierung die Möglichkeit geschaffen, allein reisende Frauen mit oder ohne Kinder in einer besonderen Einrichtung unterzubringen.
Auch für Gewaltbetroffene in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes steht das Netzwerk der Gewaltberatungsstellen zur Verfügung. An die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die ehrenamtlich Tätigen in Aufnahmeeinrichtungen des Landes sind aktuell Informationsmaterialien zum existierenden Hilfesystem des Gewaltschutzes für Frauen versandt worden. Mehrsprachiges Informationsmaterial für Betroffene wurde zur Verfügung gestellt.
Es ist beabsichtigt, den Einrichtungen des Gewaltschutzes für Frauen finanzielle Hilfe bei der Inanspruchnahme von Übersetzungsleistungen für die Beratung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen.
Das Bündnis WhiteIT mit Partnern aus Industrie, Verbänden und Opferschutzeinrichtungen, an dem auch das Land Niedersachsen beteiligt ist, beweist immer wieder die Wichtigkeit, sich sexualisierter Gewalt entgegen zu stellen. Um auch Flüchtlingskinder, aber auch deren Betreuer, sowohl über das Phänomen zu sensibilisieren als auch ihnen die Menschenrechte nach der Charta der Vereinten Nationen näher zu bringen wurde ein 52-seitiges Kinderbuch erarbeitet. In diesem werden spielerisch Alltagssituationen in deutscher Sprache und in Hocharabisch dargestellt. Ziele sind, neben der vollflächigen Verteilung über Polizei, Hilfsorganisationen etc. vor allem die Steigerung des Selbstwertgefühls sowie die Vermittlung einer Willkommenskultur. Derzeit planen die Bündnispartner von White IT eine Erstauflage in Niedersachsen von 20.000 Büchern und bundesweit von 100.000 Büchern.
Spätestens Mitte Februar 2016 wird mit der Verteilung sowohl in den Erstaufnahmeeinrichtungen als auch den weiteren Flüchtlingsunterkünften begonnen.
Artikel-Informationen
erstellt am:
18.12.2015