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Beantwortung der mdl. Anfrage der Grünen zur Erhebung von Straftaten politisch motivierter Kriminalität durch den nds. Verfassungsschutz für 2009 und 2011

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 24.01.2014; Fragestunde Nr. 3 (Frage 1 – 3)

Innenminister Boris Pistorius beantwortet die mündliche Anfrage der Abgeordneten Meta Janssen-Kucz, Helge Limburg und Belit Onay (Grüne) und Fragestunde Nr. 9 (Frage 4 – 6)

Innenminister Boris Pistorius beantwortet die mündliche Anfrage der Abgeordneten Meta Janssen-Kucz, Helge Limburg und Belit Onay (Grüne)

Die Abgeordneten hatten gefragt:

Laut einem NDR-Bericht vom 22. Oktober 2013 mit dem Titel „Verfassungsschutz-Skandal: Schünemanns Geist?“ soll der ehemalige Innenminister bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2009 in mehreren Fällen Gewalttaten und Anschläge als linksextremistisch eingestuft haben, ohne dass es hierfür Anhaltspunkte gegeben habe. Wörtlich heißt es beim NDR: „Für viele dieser Schuldzuweisungen gibt es zum Zeitpunkt der Pressekonferenz nach NDR-Informationen keine konkreten Belege und auch keine konkreten Tatverdächtigen.“ Auch im Jahr 2012 war die Zuordnung von Straftaten zum Linksextremismus durch den niedersächsischen Verfassungsschutz umstritten. In der Präsentation des Verfassungsschutzberichtes 2011 wurden Brandanschläge auf Autos in Hamburg und Berlin pauschal als Beispiele linksextremer Straftaten genannt. In zwei Gerichtsurteilen gegen Hauptverantwortliche aus Hamburg und Berlin wurde allerdings ausdrücklich festgestellt, dass jeweils kein politischer Hintergrund vorliege. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten Helge Limburg, Meta Janssen-Kucz und Christian Meyer nahm die damalige schwarz-gelbe Landesregierung zu diesem Widerspruch keine Stellung (Drs. 16/5097).

Wir fragen die Landesregierung:

1. Im niedersächsischen Verfassungsschutzbericht 2009 werden 161 Gewalttaten und 823 sonstige Straftaten als „politisch motivierte Kriminalität - links“ mit „linksextremistischem Hintergrund“ bezeichnet. Konnten und können diese Straftaten eindeutig diesem Täterkreis zugeordnet werden?

2. Bei wie vielen dieser Straftaten lagen bis zum Zeitpunkt der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2009 konkrete Hintergründe und gesicherte Informationen vor, dass es eindeutig linksextremistische Straftaten waren?

3. Erfolgte und, wenn ja, wann und wie eine Richtigstellung über die Ergebnisse und politische Zuordnung nach Abschluss der Ermittlungsverfahren?

4. Unter welchen Voraussetzungen bzw. Kriterien wurden im VS-Bericht 2009 Straftaten als „linksextremistisch“ eingestuft, und nahm die Polizei oder der Verfassungsschutz die Einstufung der jeweiligen Straftaten als linksextremistisch vor?

5. Werden grundsätzlich Karten zur visuellen Darstellung der Anschlagsorte angefertigt?

a) Wurden im gleichen Jahr auch Karten mit den Orten rechtsextremer Anschläge angefertigt?

b) Auf wessen Betreiben hin wurde die Karte angefertigt?

6. Hält die Landesregierung an der Einstufung der im Verfassungsschutzbericht 2011 als „linksextrem“ bewerteten Autobrandanschläge trotz gegenteiliger Sachverhaltsfeststellungen in den oben genannten Gerichtsurteilen fest? Wenn ja, auf welcher Grundlage?

Innenminister Boris Pistorius beantwortete namens der Landesregierung die Anfrage wie folgt:

Die Politisch motivierte Kriminalität wird seit dem Jahr 2001 durch die Polizei auf Grundlage des durch einen Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder eingeführten „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK)“ erfasst, um eine bundeseinheitliche und differenzierte Auswertung und Lagedarstellung zu ermöglichen.

Meldepflichtig sind alle politisch motivierten Straftaten (Fälle) gemäß den Richtlinien des KPMD-PMK. Dazu zählen „echte Staatsschutzdelikte“ (§§ 80-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 234a, 241a StGB) sowie Delikte der allgemeinen Kriminalität, die gemäß Definitionssystem der PMK zuzuordnen sind („unechte Staatsschutzdelikte“). Den letztgenannten werden Fälle zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie nach verständiger Betrachtung politisch motiviert waren, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elementes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Extremismus) zum Ziel haben muss. Darüber hinaus werden zudem die Tatbestände der „echten Staatsschutzdelikte“ erfasst, selbst wenn im Einzelfall keine politische Motivation festgestellt werden kann.

Dem Phänomenbereich der Politisch motivierten Kriminalität -links- werden gemäß dem bundeseinheitlichen KPMD-PMK Straftaten zugeordnet, wenn „in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie nach verständiger Betrachtung einer „linken“ Orientierung zuzurechnen sind“. Demnach sind insbesondere Taten dazuzurechnen, wenn „Bezüge zu Anarchismus oder Kommunismus (einschließlich Marxismus) ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren“.

Die extremistische Kriminalität, welche in den Berichten der Verfassungsschutzbehörden dargestellt wird, bildet einen Teilbereich der Politisch motivierten Kriminalität ab und umfasst Straftaten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Ebenfalls hinzugerechnet werden Straftaten, die durch Anwendung von Gewalt oder durch darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder sich gegen die Völkerverständigung richten.

Im Rahmen des KPMD-PMK erfolgt unverzüglich bei Aufnahme der Ermittlungen durch die örtlichen zuständigen Dienststellen des zuständigen polizeilichen Staatsschutz eine erste eigene Bewertung, ob eine Straftat einen extremistischen Hintergrund hat und welchem Phänomenbereich sie zuzuordnen ist. Hierbei orientiert sich die Bewertung am Extremismusbegriff der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder (vgl. § 3 Absatz 1 NVerfSchG) sowie dazu vorhandener Rechtsprechung. Diese erste Einschätzung übermitteln die Staatsschutzdienststellen als "Kriminaltaktische Anfrage in Fällen Politisch motivierter Kriminalität (KTA-PMK)" unverzüglich dem Landeskriminalamt Niedersachsen. Soweit eine Straftat als „extremistisch“ bewertet wird oder ein diesbezüglicher „Zweifelsfall“ erkannt wird, ergeht die KTA-PMK auch an die Verfassungsschutzbehörde. Sofern sich im Verlauf des Verfahrens neue Erkenntnisse ergeben, nach denen die erste Einstufung zu revidieren ist sowie bei Abschluss der Ermittlungen und bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft erhält die Verfassungsschutzbehörde weitere KTA-PMK-Meldungen zum jeweiligen Sachverhalt.

Durch die Verfassungsschutzbehörde, der die endgültige Entscheidung über die Einstufung als extremistische Tat obliegt, erfolgt ein Abgleich der KTA-PMK mit den dort vorliegenden Erkenntnissen. Kommt diese zu einer gegenteiligen Bewertung, teilt sie dies der zuständigen Polizeidienststelle mit, die daraufhin in den polizeilichen Auskunftssystemen eine Änderung der Einstufung der entsprechenden Taten veranlasst.

Die auf diese Weise zwischen Polizei und Verfassungsschutz abgestimmten, bei der Polizei gespeicherten Bewertungen zur PMK spiegeln damit den jeweils aktuell gegebenen Ermittlungsstand, auch in Bezug auf die Melde-/Bewertungskriterien wieder. Für die Darstellung der PMK-Jahreslage in Bund und Ländern wird – von der Auswertung der tagesaktuellen Datensätze abweichend – einheitlich der zum 31. Januar des Folgejahres gegebene Datenbestand herangezogen. Diese Fallzahlen sind in Niedersachsen zugleich auch die Grundlage für die statistische Zulieferung der Fälle extremistisch motivierter Kriminalität von der Polizei an den Verfassungsschutz zur Erstellung des Verfassungsschutzberichtes.

Insofern sind die statistischen Daten, die die Grundlage für das Zahlenmaterial in den Verfassungsschutzberichten darstellen, zwischen Polizei und Verfassungsschutzbehörde abgestimmt.

Dass auch Anpassungen nach Abschluss des jeweiligen Berichtszeitraumes hinsichtlich der extremistischen Bewertungen der Sachverhalte erfolgen und diese in die statistische Erfassung einfließen, kann durch Vergleich von zwei aufeinander folgenden Verfassungsschutzberichten festgestellt werden. Zwar steigen die Zahlen in der Regel im folgenden Bericht an, was im Wesentlichen auf Nachmeldungen beruht, teilweise werden die Zahlen aber auch nach unten korrigiert. So wurden für das Jahr 2010 in einer ersten Zusammenstellung zunächst zwei Fälle mit dem Tatbestand „Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion“ aufgeführt, im Jahresbericht 2011 war für das Jahr 2010 nur noch eine Tat verzeichnet.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Die in der Frage enthaltenen Zahlenangaben entsprechen nicht der Darstellung im Niedersächsischen Verfassungsschutzbericht 2009. Tatsächlich sind im Verfassungsschutzbericht für 2009 161 Gewaltdelikte und 662 sonstige Straftaten aufgeführt, die insgesamt 823 Straftaten der „politisch motivierten Kriminalität - links“ mit „linksextremistischem Hintergrund“ ergeben.

Die Bewertung der im Verfassungsschutzbericht 2009 aufgeführten Taten erfolgte im Rahmen des dargestellten Verfahrens, welches gewährleistet, dass nachträgliche Änderungen der Bewertungen auf Grund einer erweiterten Erkenntnislage sowie Nachmeldungen noch nicht erfasster Taten in der statistischen Darstellung berücksichtigt werden. Daher handelt es sich um eine so genannte lebende Statistik, bei der sich der Datenbestand ständig ändert.

Eine Abfrage zum aktuellen Stand der extremistischen Fallzahlen 2009 am 15.01.2014 ergab, dass bei 163 (+2) Gewalttaten und 629 (-33) sonstigen Straftaten ein extremistischer Hintergrund vorlag.

Die Veränderungen lassen sich im Einzelnen der folgenden Tabelle entnehmen:

Übersicht der Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich der „Politisch motivierten Kriminalität – links“ in Niedersachen für das Jahr 2009

Erhebung zum Stichtag 31.01.2010

Erhebung

15.01.2014

Gewalttaten:

Tötungsdelikte

0

0

Versuchte Tötungsdelikte

0

0

Körperverletzungen

49

52

Brandstiftungen

19

20

Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion

0

0

Landfriedensbrüche

53

53

Gefährl. Eingriffe in Bahn-, Luft-, Schiffs- oder Straßenverkehr

7

7

Freiheitsberaubung

1

1

Raub

2

1

Erpressung

0

0

Widerstandsdelikte

30

29

Sonstige Delikte

0

0

insgesamt

161

163

Sonstige Straftaten:

Sachbeschädigungen

393

358

Nötigungen/Bedrohungen

23

23

Andere Straftaten

246

248

insgesamt

662

629

Straftaten insgesamt

823

792

Zu 2.:

s. Vorbemerkung

Zu 3.:

Die Überprüfung der jeweiligen Einstufung einer Tat erfolgt durch Polizei und Verfassungsschutz wie in den Vorbemerkungen beschrieben im laufenden Verfahren. Selbst nach Jahren wird die lebende Statistik entsprechend angepasst, soweit sich Erkenntnisse ergeben, die eine Revidierung der Einstufung erforderlich machen.

Wie in der Tabelle der Beantwortung zu Frage 1 ersichtlich ist, hat es im Zeitraum vom 31.01.2010 bis 15.01.2014 Änderungen bei der Extremismusbewertung (+2 Gewalttaten, -33 sonstige Straftaten) gegeben. In welchen konkreten Einzelfällen Änderungen erfolgt sind, ist nicht bekannt, da das „Auswertesystem Polizeilicher Staatsschutz“ (APS) diese Statusänderungen nicht protokolliert und sie daher retrograd nicht erhoben werden können.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 4.:

Siehe Vorbemerkung

Zu 5.:

a)

Nein

b)

Bei den im Bericht des NDR vom 22.10.2013 genannten Karten, die sich in Frage 2 widerspiegeln, handelt es sich um eine vom Landeskriminalamt Niedersachsen auf Anforderung des Landespolizeipräsidiums übersandte Übersicht. Die Karte wurde im Rahmen der Vorstellung der Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität des Jahres 2009 bei einer Pressekonferenz des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration am 09.04.2010 präsentiert.

In den Folgejahren wurden weder Karten für links- noch für rechtsextremistisch eingestufte Anschläge bei der Präsentation der Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität verwendet.

Zu 6.:

Auf Grundlage des KPMD-PMK erfolgt eine differenzierte Erfassung und Erhebung von Straftaten für den Bereich der politisch motivierten Kriminalität. So werden beispielsweise nicht per se alle Brandanschläge auf Pkw der politisch motivierten Kriminalität – links und weitergehend dem Linksextremismus zugeordnet. Einer auf Initiative Niedersachsens veranlassten und vom Bundeskriminalamt durchgeführten Sondererhebung zu Brandanschlägen auf Kraftfahrzeuge über den Zeitraum 01.01.2009 bis 30.09.2011 ist zu entnehmen, dass im Schnitt zu jeder siebten als politisch eingestuften Tat ein Selbstbezichtigungsschreiben vorlag. In Niedersachsen wurden für das Jahr 2009 lediglich 15 Brandstiftungen an Pkw als politisch motiviert eingestuft, dem gegenüber sind aber 137 Taten dem allgemeinkriminellen Bereich zugeordnet worden. Im Jahr 2010 betrug das Verhältnis 9 zu 125 Taten.

Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge stellten vor allem zu den in der Anfrage erwähnten Zeiträumen eine militante Vorgehensweise von Linksextremisten gegen den von ihnen bekämpften demokratischen Rechtsstaat dar. Einschlägige linksextremistische Publikationen wie „radikal“ oder „interim“ lieferten konkrete Anleitungen zur Inbrandsetzung von Kraftfahrzeugen.

Auch Niedersachsen war davon betroffen. So wurden am 19.07.2009 in Lüneburg auf dem frei zugänglichen Parkplatz eines Transportunternehmens zwölf Kraftfahrzeuge der Deutschen Post AG in Brand gesetzt. Die Fahrzeuge brannten zum Teil vollständig aus, ein Gebäude wurde durch die Hitze- und Rußentwicklung beschädigt. Zwei Wochen nach der Tat ging ein Selbstbezichtigungsschreiben bei der Lüneburger Landeszeitung ein, in dem sich eine bis dahin unbekannte Gruppierung namens „Autonomer antimilitaristischer Arbeitsausschuss“ zu dem Anschlag bekannte. Bei diesem Brandanschlag muss daher davon ausgegangen werden, dass es sich um einen politisch motivierten Brandanschlag handelte.

Darüber hinaus geriet am 23.02.2011 in Dannenberg (Polizeidirektion Lüneburg) ein Kleintransporter der Firma Eon-Avacon auf dem Privatgrundstück eines Mitarbeiters auf bisher unbekannte Weise in Brand. Wenige Wochen später wurde in der „interim Nr. 725“ ein Selbstbezichtigungsschreiben mit der Überschrift „Repression erzeugt Widerstand. Widerstand erzeugt Wärme!“ der Gruppe „Autonome Kernphysiker_innen“ veröffentlicht.

Um die überregionale Dimension dieser Taten zu verdeutlichen, hat der Niedersächsische Verfassungsschutz die Autobrände in Hamburg und Berlin beispielhaft aufgegriffen, ohne eine ausdrückliche Zuordnung vorzunehmen, da sie aufgrund des modus operandi den Schluss zuließen, dass viele der verübten Taten politisch motiviert sein könnten. Auch wenn mit Blick auf die in der Anfrage zitierten Gerichtsurteile zu Autobränden in Hamburg und Berlin Teile dieser Straftaten nach neueren Erkenntnissen der allgemeinen Kriminalität zuzurechnen sind, bleibt festzustellen, dass ein Teil der Straftaten wie oben dargestellt einen politisch motivierten Hintergrund hatten.

Die Bewertungen des Niedersächsischen Verfassungsschutzes geben aktuelle Entwicklungen wieder und können daher immer nur Momentaufnahmen sein. Sofern sich Veränderungen und neue Erkenntnisse ergeben wie etwa aus gerichtlichen Entscheidungen, finden sie Eingang in aktuelle und künftige Beurteilungen und die darauf aufbauende Berichterstattung.

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erstellt am:
24.01.2014

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