Abschiebungen durch den Landkreis Wesermarsch
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 17.03.2011; Fragestunde Nr. 16
Die Abgeordneten hatten gefragt:
Am Morgen des 19. Januar versuchte die Ausländerbehörde des Landkreises Wesermarsch, zwei 15- bzw. 17-jährige Brüder in den Kosovo abzuschieben. Die Abschiebung scheiterte daran, dass einer der beiden Brüder zum Zeitpunkt der - vorher nicht angekündigten - Abholung nicht zu Hause war. Das durch den Anwalt der Brüder angerufene Verwaltungsgericht Münster stellte in einem Eilbeschluss fest, dass es nicht verantwortet werden könne, die beiden in Deutschland geborenen Minderjährigen in ein ihnen fremdes Land zu schicken, ohne zu wissen, wo sich deren Mutter aufhält oder ob es im Kosovo noch Verwandte gibt, die für sie sorgen könnten.
Die in Deutschland geborenen Brüder, deren Vater vor einigen Jahren verstorben ist, lebten mit ihrer Mutter in Deutschland und waren im Dezember 2009 bereits einmal mit ihrer Mutter in den Kosovo abgeschoben worden. Dort wurden sie und ihre Mutter von Albanern angegriffen und misshandelt. Im Dezember 2010, fast genau ein Jahr nach ihrer Abschiebung, schafften die Brüder es, zurück nach Deutschland zu kommen. Von ihrer Mutter wurden sie auf der Flucht getrennt. In Deutschland wurden sie von einem Cousin und dessen Familie im Landkreis Wesermarsch aufgenommen.
Der zum Vormund bestellte Mitarbeiter des Jugendamtes im Landkreis Wesermarsch hatte die beiden Jungen bis zum Tag der Abschiebung nicht ein einziges Mal besucht und war auch nicht durch die Ausländerbehörde über das Abschiebungsvorhaben unterrichtet worden. Lediglich über die Ausweisung war er informiert worden. Den Ablauf der Rechtsmittelfrist gegen diese Ausweisung kannte der Amtsvormund und wollte die
Jugendlichen trotz dieser Kenntnis erst einen Tag nach Ablauf dieser Frist aufsuchen, obwohl der Anwalt ihn vorher über seine Absicht, Klage dagegen zu erheben, informiert hatte. So hat der Vormund auch seine Zustimmung zur Klage verweigert, die erforderlich war, weil der 15-jährige nicht selbstständig einen Anwalt beauftragen konnte. Die anwaltliche Beschwerde gegen die Einrichtung der Amtsvormundschaft war dann auch erfolgreich, sodass der Cousin als Vormund eingesetzt wurde und die Klage genehmigte.
Die Ausländerbehörde hat am 30. Dezember 2010 die Botschaft in Pristina über die bevorstehende Abschiebung informiert. Der Brief schloss mit der Bitte, die Mutter bzw. die Tante oder Cousins von der Ankunft der beiden zu unterrichten. Obwohl eine Antwort der Botschaft nicht erfolgte, wurde die Abschiebung dann wie beschrieben versucht.
Wir fragen die Landesregierung:
- Wie bewertet die Landesregierung die Abschiebungspraxis des Landkreises Wesermarsch in diesem Fall - auch vor dem Hintergrund, dass es sich bei den beiden Jungen um unbegleitete Minderjährige handelt?
- Sieht die Landesregierung in dem Vorgang Verstöße gegen die Absätze 1 oder 2 des Artikels 10 der seit Jahresende 2010 unmittelbar anwendbaren EU-Rückführungsrichtlinie, die besagen, dass vor Ausstellung einer Rückkehrentscheidung für unbegleitete Minderjährige Unterstützung durch geeignete Stellen, bei denen es sich nicht um die für die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zuständigen Behörden handelt, unter gebührender Berücksichtigung des Wohles des Kindes zu gewähren ist (Absatz 1) und sich die Behörden vor Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen zu vergewissern haben, dass die Minderjährigen einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeein-richtung im Rückkehrstaat übergeben werden (Absatz 2)? Bitte begründen.
- Wie stuft die Landesregierung vor dem Hintergrund dieses Vorfalls das Wohl des Kindes ein, und was wird sie unternehmen, um es zukünftig besser zu schützen und in den Fokus behördlichen Handelns zu rücken?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:
Die beiden 15 und 17 Jahre alten Brüder aus der Republik Kosovo, die am 19.01.2011 abgeschoben werden sollten, waren vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Da sie dieser Verpflichtung nicht nachkamen, war die Ausländerbehörde verpflichtet, den unerlaubten Aufenthalt durch Abschiebung zu beenden.
Die minderjährigen Brüder waren bereits im Jahr 2009 von der damals zuständigen nordrhein - westfälischen Ausländerbehörde in Borken zusammen mit ihrer Mutter in die Republik Kosovo abgeschoben worden. Sie unterliegen durch die damalige Abschiebung weiterhin der gesetzlich normierten Wiedereinreisesperre, solange diese von der Ausländerbehörde nicht befristet wurde. Nach der Abschiebung in die Republik Kosovo waren sie von einem Fernsehteam des ZDF aufgesucht worden, das einen Beitrag sendete, in der beide mit ihrer Mutter im Familienverband mit einer Tante und insgesamt neun Cousinen und Cousins gezeigt wurden.
Nach Angaben der Brüder hatten Mitarbeiter des Niedersächsischen Flüchtlingsrats im Rahmen der Abschiebung aus Nordrhein-Westfalen Kontakt zu ihnen aufgenommen und diesen auch während des Aufenthalts in Kosovo gehalten. Im Dezember 2010 sind dann beide - eigenen Angaben zufolge - illegal über Ungarn nach Deutschland eingereist und haben sich zunächst beim Jugendamt der Stadt Hildesheim gemeldet. Da sie keinerlei Bezug zu Hildesheim hatten, hat das dortige Jugendamt Kontakt zum Jugendamt des Landkreises Wesermarsch aufgenommen. In diesem Bereich leben Verwandte der beiden Brüder, bei denen sie dann ihren Wohnsitz genommen haben.
Von der Ausländerbehörde des Landkreises Wesermarsch wurden beide wegen ihrer illegalen Einreise ausgewiesen und über die Möglichkeiten einer freiwilligen Ausreise aufgeklärt. Diese Möglichkeit haben sie nicht genutzt, so dass die Abschiebung durch die Ausländerbehörde zwingend einzuleiten war.
Derzeit wird der Aufenthalt der beiden Brüder in Deutschland geduldet, da das Verwaltungsgericht Münster, welches im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Gewährung von Abschiebungsschutz wegen der im Kosovo drohenden Gefahren zuständig ist, die Abschiebung der beiden bis zur Entscheidung über die Hauptsache im anhängigen Klageverfahren vorläufig untersagt hat. Nach Auffassung des Gerichts ist zunächst die notwendige Betreuung und Versorgung der Brüder nach Rückkehr in die Republik Kosovo zu klären.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Für das ausländerbehördliche Handeln gilt der Grundsatz, dass die freiwillige Ausreise vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländerinnen und Ausländer absoluten Vorrang vor der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht hat. Das gilt auch für die Ausländerbehörden in Niedersachsen. Die Ausländerbehörden sind auch gehalten großzügige Ausreisefristen einzuräumen. Das Land gewährt organisatorische und finanzielle Hilfe zur Vorbereitung und Durchführung der freiwilligen Ausreise. Verweigern sich die ausreisepflichtigen Ausländerinnen und Ausländer einer freiwilligen Ausreise, ist die Abschiebung zwingend gesetzlich geboten; das gilt auch für die Abschiebung von Minderjährigen, wobei es dazu bestimmter Vorkehrungen bedarf. Soweit sie nicht den zu den im Herkunftsland lebenden Eltern oder Verwandten zurückkehren können, kommt eine Aufnahme in Jugendhilfeeinrichtungen, in denen unbegleitete Minderjährige in Obhut genommen werden, in Betracht. Das gilt auch für die Republik Kosovo.
Wie sich im vorliegenden Fall aus dem Landkreis Wesermarsch ausweislich des ZDF - Berichts nach der ersten Abschiebung gezeigt hat, haben die beiden Brüder eine große Verwandtschaft in der Republik Kosovo, zu der sie Kontakt hatten und auch hätten zurückkehren können. Die Ausländerbehörde hat im Vorfeld der geplanten Abschiebung die Deutsche Botschaft Pristina über die Besonderheiten dieses Einzelfalles informiert und um Unterstützung gebeten. Dazu wurden insbesondere auch die Adressen von Verwandten der beiden Brüder übermittelt.
Zu 2.:
Ein Verstoß gegen die Vorgaben der EU – Rückführungsrichtlinie sind im Vorgehen der Auslän-derbehörde nicht erkennbar. Die Brüder sind unmittelbar nach ihrer illegalen Einreise vom Jugendamt der Stadt Hildesheim in die Obhut des Jugendamtes des Landkreises Wesermarsch gegeben worden. Die in Artikel 10 Nr. 1 der EU – Rückführungsrichtlinie geforderte Berücksichtigung des Kindeswohls erfolgt in Deutschland schon durch die gesetzliche Regelung des § 42 SGB VIII. Danach ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, einen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen in seine Obhut zu nehmen. Dies ist im vorliegenden Fall umgehend geschehen, nachdem deutsche Behörden Kenntnis vom Aufenthalt der beiden Brüder erhalten hatten.
Die Vorgaben des Artikel 10 Nr. 2 der EU – Rückführungsrichtlinie sind von der Ausländerbehörde dahingehend beachtet worden, dass die Deutsche Botschaft in Pristina über die Rückkehr der Brüder informiert und um Unterstützung bei der Rückkehr der Brüder zu ihren Verwandten gebeten wurde.
Zu 3.:
Das Wohl des Kindes wird zunächst im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt. Danach steht eine Abschiebung von ausreisepflichtigen minderjährigen Personen grundsätzlich dem Kindeswohl nicht entgegen, wenn eine Aufnahme in der Familie oder in Jugendhilfeeinrichtungen des Herkunftslandes erfolgen kann. Welches behördliche Vorgehen hinsichtlich der beiden Brüder geboten sein wird, ist vom Ausgang des verwaltungsgerichtlichen Klageverfahrens abhängig.