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Polizeieinsatz zum Castortransport 2010

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.02.2011; Fragestunde Nr. 49


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage des Abgeordneten Kurt Herzog (LINKE); Es gilt das gesprochene Wort!

Der Abgeordnete hatte gefragt:

7. November 2010 im Wendland: Bereits auf dem Weg zu Sammelpunkten und Camps durchsuchte die Polizei Demonstrantinnen und Demonstranten, nahm Personalien auf und verteilte Platzverweise. Demonstrantinnen und Demonstranten sahen sich bereits Kilometer von der Versammlungsverbotszone entfernt poli­zei­lichen Attacken ausgesetzt.

2 200 Reizstoffsprühgeräte wurden laut Polizeiauskunft benutzt. In der Nähe von Leitstade wurden von Einsatzkräften auch „flächenwirksame“ CS-Gaspatronen verschossen. Reizgasnebel hüllte die Menschen ein. Diese Gaspatronen mit einer Reichweite von 60 bis 90 m wurden massenhaft im Wald gefunden und liegen als Beweisstücke vor.

In der Antwort der Bundesregierung (Drs. 17/4163) auf die Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE.), Drs. 17/3942, heißt es: „Der Einsatz von Pfefferspray wird vorher angedroht. Personen, die den Einsatz von Zwangsmitteln gegen sich vermeiden wollen, haben zu jeder Zeit die Möglichkeit, den Anordnungen der Polizeikräfte Folge zu leisten und den Wirkbereich von Reizstoffen zu verlassen.“ Weder der Einsatz von Pfefferspray noch der Einsatz von CS-Gas wurde vorher angedroht.

Ich frage die Landesregierung:

  1. Welche Einheit befand sich am 7. November 2010 in Leitstade am Bahngleis, und wer hat die Patronen mit CS-Gas mit der Bezeichnung: 5 Stück/5 pieces, Reizstoffpatrone Kal.40 mm Irritant Cartridge Cal. 40 mm, RP 721 - 8CS Reichweite/Range 60 bis 90 m Art.-No.: 43124800 PSH 0409001 von der Firma Rheinmetall Waffen Munition GmbH, NL Pyrotechnik Silberhütte, Kreisstr. 2, 06793 Silberhütte oder welche anderen Gas"produkte“ auf welcher rechts- und situationsbedingter Grundlage verschossen, und wie wird der in § 4 Nds. SOG vorgeschriebene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt?
  2. Inwieweit werden Polizeibeamte des Bundes und der Länder in ihrer Ausbildung auf mögliche Risiken und Gefährlichkeit durch den Einsatz von Reizstoffen hingewiesen, wie wird das „praktische Training“ genau durchgeführt?
  3. In der Anlage zum Runderlass „Reizstoffe in der Polizei des Landes Niedersachsen“ vom 3. Februar 2009 werden medizinische Symptome und gesundheitliche Folgen umfänglich beschrieben. Auch wird unter „Nachsorge“ erklärt, bei welchen Symptomen das Hinzuziehen von Rettungskräften erforderlich ist. Wie kann beim Verschießen von Gaspatronen mit einer Reichweite von 90 m gewährleistet werden, dass insbesondere im Wald durch Abpraller etc. keine Menschen direkt getroffen werden, und wie wird oder wurde eine Nachsorge bei den massenhaft Betroffenen, unter denen auch Allergiker oder unter Medikamenten stehende Personen sein können, praktisch durchgeführt?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Reizstoffe können als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt i. S.des § 69 Abs. 3 Nds. SOG beim Vor­liegen der gesetzlichen Voraussetzungen über die Anwendung des unmittelbaren Zwangs unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch die Polizei eingesetzt werden. Als Distanzeinsatzmittel haben sie sich u.a. zur Vermei­dung des Schlagstockeinsatzes oder anderer Waffen bewährt.

Gegen Menschenmengen werden sie nur eingesetzt, wenn von ihr Gewalttaten ausgehen oder unmittelbar bevorstehen. In jedem Falle, außer zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr, wird die Anwen­dung von unmittelbarem Zwang durch den Einsatz von Reizstoffen angekündigt und ausreichend Gegelegenheit gegeben, sich durch Erfüllung der geforderten gesetzlichen Verpflich­tung den Aus­wirkungen von Reizstoffen zu entziehen.

Die Beantwortung dieser Kleinen Anfrage be­ruht in wesentlichen Teilen auf einer Stellung­nahme der Polizeidirektion Lüneburg.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Während des polizeilichen Einsatzes aus An­lass des Castortransportes 2010 befanden sich an den Bahngleisen im Bereich Leitstade die dort zuständigen Einsatzeinheiten der Bundespolizei.

Am Morgen des 07.11.2010 überschütteten Demonstranten bei Leitstade einen Sonderwagen der Polizei mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündeten diese an. Das mit mehreren Polizeibeamten besetzte Fahrzeug fing Feuer. Darüber hinaus wurden im Bereich Leitstade Einsatzkräfte mit Klebstoffen und Reizstoffen angegriffen. Dabei wurden acht Beamte durch Reizstoffe und fünf Beamte durch Tritte und Stöße verletzt.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Einsatzein­heiten aus Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Thüringen im Bereich Leitstade. Im Zusammenhang mit polizeilichen Maßnah­men aus den geschilderten Anlässen wurden Reizstoffe eingesetzt. Es kamen dabei 11 CS-Reizstoffpatronen (RP-721-8 CS Kal. 40mm) zum Einsatz. Darüber hinaus wurden insge­samt drei Wurfkörper (RW 78 CN DM 39) aus dem betroffenen und einem weiteren Sonder­wagen im Nahbereich aus einer Wurfanlage geworfen.

Dieser Reizstoffeinsatz war, auch nach einer vorläufigen – auf Bitten der Polizeidirektion Lüneburg auf der Grundlage vorhandenen Bildmaterials – abgegebenen strafrechtlichen Bewertung durch den zuständigen Dezernenten der Staatsanwaltschaft Lüneburg, zumindest durch Notwehr bzw. Nothilfe gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang werden gegen die Störer Ermittlungsverfah­ren wegen gefährlicher Körperverletzung, Landfriedensbruch, versuchter schwerer Brandstiftung und versuchten Mordes (zum Nachteil der Polizeibeamten, die im Sonderwagen saßen) geführt.

Weiteren Stellungnahmen dazu können in den noch laufenden Ermittlungsverfahren nicht abgegeben werden.

Zu 2.:

Jedem Angehörigen der Polizei des Landes Niedersachsen sind die Anwendungsmöglichkeiten und Wirkungsweisen von Reizstoffen und damit die zu beachtenden möglichen Reaktionen, Sicherheitsbestimmungen und eventuell erforderlichen Folgemaßnahmen, wie Nachversorgung betroffener Personen und Notfall- und Erste-Hilfe-Maßnahmen, bekannt.

Neben dem polizeilichen Studium erfolgt die Vermittlung dieser Inhalte grundsätzlich im Rahmen des regelmäßigen systemischen Einsatztrainings (SET) und der Ausbildung geschlossener Einsatzeinhei­ten. In wiederkehrenden Situationstrainings werden Polizeibeamte am Reizstoffsprühgerät fort­gebildet. Das Thema Pfefferspray wird z.B. im Rahmen eines mehrtägigen Basistrainings des SET behandelt. Die Teilnehmer bekommen unter anderem einen Lehrfilm gezeigt, in dem die Zusammensetzung des Reizstoffes, sowie die Wirkungsweise erläutert und in praktischen Beispielen vorgeführt werden.

Über die Trainingsmethoden der Bundespolizei und der anderer Bundesländern liegen der Landesregierung keine Informationen vor.

Zu 3.:

Werden beim Werfen von Reizstoffpatronen Menschen z.B. durch Abpraller getroffen, ist dies wegen einer weichen Styroporummantelung der Wurfkörper ungefährlich. Andere, zu ver­schie­ßende Reizstoffpatronen müssen für ein Teilen in Subkörper im steilem Winkel in die Höhe abgeschossen werden, welches eine direkte Verletzungsmöglichkeit verhindert.

Den Polizeieinheiten sind grundsätzlich Rettungssanitäter zugeordnet. Sollten diese im Einsatz auf verletzte Demonstranten treffen, leisten sie selbstverständlich "Erste Hilfe". Im Castor-Einsatz 2010 wurde zusätzlich ein privater Rettungsdienst von der Polizei zur Versorgung der Demonstranten bei Ingewahrsamnahmen und Notfällen verpflichtet. Auch die Landkreise haben über das DRK mit einem hohen Aufgebot die medizinische Versorgung / Nachsorge gewährleistet.




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erstellt am:
18.02.2011

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