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Einsatz niedersächsischer Polizisten in Afghanistan

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 07.10.2010; Fragestunde Nr. 5


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Pia-Beate Zimmermann (LINKE); es gilt das gesprochene Wort! Die Abgeordnete hatte gefragt:

Vor Kurzem kündigte das Land Brandenburg an, keine Polizisten mehr nach Afghanistan zu schicken. Nach Ansicht des ehemaligen brandenburgischen Innenministers Rainer Speer hat sich die Grundlage für den Einsatz am Hindukusch entscheidend verändert. Hintergrund sei die Erklärung von Außenminister Guido Westerwelle vom Februar dieses Jahres, wonach die Deutschen in Afghanistan an einem „bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts“ teilnehmen. Dies ist nach Auffassung Speers mit einem Krieg gleichzusetzen. Darum müsse der Einsatz von Polizisten aus Brandenburg neu bewertet werden. „An einem Krieg beteiligen sich brandenburgische Polizisten nicht, sie haben vielmehr ausschließlich einen zivilen Aufbauauftrag“, sagte der Sprecher. Derzeit sind 19 niedersächsische Polizeivollzugsbeamte in Afghanistan im Einsatz. Auf eine parlamentarische Anfrage hatte die Landesregierung Anfang dieses Jahres erklärt, dass Niedersachsen derzeit rund ein Drittel des deutschen Kontingents stelle - nach der Bundespolizei die stärkste Abordnung.

Ich frage die Landesregierung:

  1. Teilt sie die Erklärung von Außenminister Guido Westerwelle vom Februar 2010, wonach die Deutschen in Afghanistan an einem „bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts“ teilnehmen?
  2. Wie bewertet die Landesregierung die Sicherheitslage für die sich in Afghanistan im Einsatz befindenden niedersächsischen Polizeibeamten?
  3. Wann erfolgt der Abzug der niedersächsischen Polizeibeamten aus Afghanistan?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Deutschland trägt in enger Zusammenarbeit und Koordination mit der internationalen Staatenge-meinschaft und der afghanischen Regierung zum Aufbau der afghanischen Polizei bei. Entspre-chend der in der Londoner Afghanistan-Konferenz im Januar 2010 beschlossenen Strategie zur „Übergabe in Verantwortung“ wird der Schwerpunkt des deutschen Engagements zunehmend auf den Bereich der Ausbildung afghanischer Polizeiausbilder verlagert. Die afghanischen Sicherheitskräfte müssen schrittweise in die Lage versetzt werden, die Verantwortung für die Sicherheit ihres Landes alleine zu übernehmen. Auf dem Weg dorthin bedarf es jedoch erheb-licher Anstrengungen seitens der internationalen Staatengemeinschaft und insbesondere auch der afghanischen Regierung, um eine professionelle Aufgabenwahrnehmung durch die afghani-sche Polizei dauerhaft sicherstellen zu können.

Mit der Beteiligung deutscher Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamter (PVB) wird eine bedeutende außenpolitische Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen. Nicht nur die Innenministerkonferenz, die sich in den zurückliegenden Jahren wiederholt mit dem deutschen Engagement beim polizeilichen Aufbau in Afghanistan befasst hat, ist dieser Auffassung. Auch die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder haben bereits im Juni 2009 darauf hingewiesen, dass zwischen dem Bund und den Ländern in dieser Sache Einvernehmen besteht und einen verstärkten deutschen Beitrag zum Polizeiaufbau in Afghanistan befürwortet. Deutschland hat daher sein personelles Engagement erheblich ausgeweitet.

Das deutsche Engagement in Afghanistan wird als eine Aufgabe von besonderem nationalen Interesse verstanden. Zentrale Bedeutung haben dabei die zivilen Sicherheitsstrukturen. Schlüsselelement für eine nachhaltige Stabilisierung ist der Aufbau der Polizei. Seit Beginn des deutschen Engagements im Jahre 2002 beteiligt sich Niedersachsen mit Polizeikräften an die-sem Aufbau. Niedersachsen leistet so gemeinsam mit den anderen Ländern und dem Bund einen bedeutsamen Beitrag für den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in Afghanistan. Diese friedenssichernden Maßnahmen werden von der Landesregierung ausdrücklich unterstützt.

Die Polizeiausbildung durch deutsche Experten genießt in der internationalen Gemeinschaft sowie bei den afghanischen Partnern hohe Wertschätzung. Seit dem Jahr 2002 wurden insgesamt mehr als 1.000 deutsche PVB in Afghanistan eingesetzt, davon über 80 aus Niedersachsen; derzeit befinden sich rd. 180 deutsche PVB in Afghanistan in den Polizeimissionen, davon 24 aus Niedersachsen. Niedersachsen stellt aktuell nach dem Bund das zweitgrößte Kontingent. Im Rahmen dieses deutschen Engagements haben mittlerweile 34.000 afghanische Polizisten an Aus- und Fortbildungsmaßnahmen teilgenommen. Deutschland beabsichtigt, jährlich 5.000 Poli-zeianwärter von deutschen Polizeiexperten ausbilden zu lassen. Begleitend zu den Aus- und Fortbildungsmaßnahmen sind durch deutsches Engagement kontinuierliche Fortschritte im Bereich des Aufbaus polizeilicher Infrastruktur und des Alphabetisierungsprogramms zu verzeichnen.

Mit Pressemitteilung vom 04.09.2010 hat der Sprecher des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg mitgeteilt, dass keine weiteren Brandenburger PVB zum Einsatz nach Afghanistan entsandt werden. Das Ministerium bestätigte damit die entsprechende Vorabmeldung eines Nachrichtenmagazins. Hintergrund dieser Entscheidung des seinerzeitigen Brandenburger Innenministers sei die Erklärung des Bundesaußenministers vom 09.02.2010, wonach die Deutschen in Afghanistan an einem „bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts“ teilnehmen. In der Pressemitteilung heißt es: „Diese völkerrechtliche Formel bedeutet nach Auffassung von Innenminister Speer faktisch dasselbe wie Krieg.“

Die Landesregierung bedauert diesen Rückzug Brandenburgs vom Polizeieinsatz in Afghanistan und teilt die Bewertung Brandenburgs ausdrücklich nicht.

Dies vorangestellt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Außenminister Dr. Westerwelle hat im Februar dieses Jahres in seiner Regierungserklärung vor dem deutschen Bundestag zum deutschen Afghanistanengagement darauf hingewiesen, dass die Einsatzsituation der ISAF auch im Norden Afghanistans als „bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts“ zu qualifizieren sei. Diese völkerrechtliche Einordnung ist vor dem Hintergrund des Bedürfnisses nach Rechtssicherheit für das Handeln der in Afghanistan einge-setzten deutschen Soldaten zu sehen. Diese völkerrechtliche Qualifizierung der objektiven Ein-satzsituation von ISAF hat Konsequenzen für die Handlungsbefugnisse der Soldaten, für die Befehlsgebung und für die Beurteilung des Verhaltens von Soldaten in strafrechtlicher Hinsicht. Sie spielt rechtlich eine Rolle für die unter dem humanitären Völkerrecht anzuwendenden militä-rischen Regeln und die Regeln des Völkerstrafrechts. Sie hat jedoch keine Auswirkungen auf den Einsatz deutscher Polizisten in Afghanistan. Zu diesem Ergebnis kommt eine Bewertung der Bundesregierung zu den Konsequenzen der Regierungserklärung für den Polizeiaufbau in Afgha-nistan, über die der Bundesinnenminister im Februar 2010 schriftlich alle Innenminister und -senatoren informiert hat. Insofern ist das in der o.a. Pressemitteilung aufgeführte Zitat … „Diese namens der Bundesregierung getroffene Aussage machte eine Neubewertung des Einsatzes unserer Polizisten erforderlich. An einem Krieg beteiligen sich brandenburgische Polizisten nicht, sie haben vielmehr ausschließlich einen zivilen Aufbauauftrag.“… für die Landesregierung nicht nachvollziehbar, da sich die völkerrechtliche Einordnung des Bundesaußenministers auf die Einsatzsituation der ISAF und eben nicht der Polizei bezogen hat.

Die Aufgabe der in Afghanistan eingesetzten Polizisten beschränkt sich nach wie vor auf die Be-ratung, Unterstützung und Ausbildung der afghanischen Polizei. Diese Aufgabe besteht unabhängig davon, wie die Konfliktlage in Afghanistan zu qualifizieren ist und welche friedenswiederher-stellenden oder - wahrenden militärischen Maßnahmen außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der entsendeten Polizeikräfte getroffen werden.

Die Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom Juni und Dezember 2009, wonach der Einsatz von PVB in Afghanistan nur in einem militärisch gesicherten Umfeld möglich ist, haben unverändert bestand.

Zu 2. und 3.:

Die Sicherheitsstandards der Mission EUPOL AFG und des deutschen bilateralen Polizeiprojekts bilden die Grundlage für den Einsatz deutscher PVB in Afghanistan im Rahmen des Polizeiaufbaus.

Für den Einsatz deutscher Polizisten ist entscheidend, dass dieser auf der Basis einer umfassen-den Sicherheitsanalyse angesichts der tatsächlichen Sicherheitslage in den jeweiligen Distrikten verantwortet werden kann. Dabei steht außer Diskussion, dass die definierten Sicherheitsstandards einen bestmöglichen Schutz des eigenen Personals gewährleisten müssen. Der bestmögliche Schutz genießt Priorität gegenüber allen weiteren einsatzbedingten Faktoren und den erwünschten und angestrebten Zielsetzungen.

Deutsche Polizeikräfte werden nur dort eingesetzt, wo dies aufgrund der gesamten Erkenntnis-lage einschließlich derer der Bundeswehr und der Nachrichtendienste zur Sicherheitslage in der Einsatzregion für vertretbar gehalten wird und die Bundeswehr für die Sicherheit eintritt.

Die Sicherheitslage wird durchgehend tagaktuell vor Ort erhoben und bewertet. Deutsche PVB werden nur in den Regionen und Distrikten eingesetzt, die nach Einschätzung der Bundesregie-rung auf der Grundlage aller verfügbaren Informationsquellen als „sicher“ bewertet werden. Die Sicherheitsstandards in der Mission orientieren sich insofern an der Sicherheitslage und den daraus resultierenden notwendigen Auflagen und Maßnahmen hinsichtlich der Ausrüstung und des individuellen Verhaltens und sind ein wesentlicher Aspekt dafür, dass deutsche Polizisten verantwortbar in Afghanistan eingesetzt werden können.

Entsprechend der Strategie einer Übergabe in Verantwortung ist es Gesamtziel, dass nach und nach die Sicherheit in Afghanistan „ein afghanisches Gesicht“ bekommen soll. Die Verantwortung soll schrittweise an diejenigen übergeben werden, die in Zukunft für die Sicherheit ihres Landes sorgen müssen. Voraussetzung dafür ist auch der Einsatz der deutschen Polizeiausbilder.

Die Landesregierung ist der Überzeugung, dass unter den genannten Bedingungen auch weiter-hin ein Einsatz von PVB in Afghanistan vertretbar und richtig ist. Sie wird daher, solange es not-wendig ist und die Sicherheitslage es zulässt, am Einsatz niedersächsischer Polizeikräfte zum Aufbau rechtsstaatlicher Polizeistrukturen in Afghanistan festhalten. Wesentlich für einen Erfolg ist die Nachhaltigkeit der Ausbildungsmaßnahmen. Perspektivisch wird die Ausbildung sukzes-sive durch afghanische Ausbilder übernommen werden, so dass das deutsche Engagement mehr auf Mentoring- und Monitoringelemente verlagert wird.

Mit der Entsendung der Polizeikräfte unterstützt Niedersachsen die afghanische Regierung in ihrer Zielsetzung, die Sicherheitsverantwortung bis 2014 selbst zu übernehmen.

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erstellt am:
07.10.2010

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