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Hat die Landesregierung Einfluss auf das Verbot einer Demonstration gegen einen Neonaziaufmarsch in Bad Nenndorf genommen?

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 19.08.10; TOP 23c DringlAnfr


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Dringliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen; es gilt das gesprochene Wort!

Die Fraktion hatte gefragt:

Offenbar auf Druck des Innenministeriums hat die Versammlungsbehörde beim Landkreis Schaumburg in der vergangenen Woche eine vom DGB angemeldete Demonstration gegen den Naziaufmarsch zum Winklerbad in Bad Nenndorf verboten. Dem folgte auch das Verwaltungsgericht Hannover. Diese beiden Entscheidungen erwiesen sich als rechtswidrig. Das Oberverwaltungsgericht ließ die DGB-Demonstration zu, allerdings nur als stationäre Kundgebung. Grundlage der Entscheidung der Versammlungsbehörde und der Verwaltungsgerichte war eine Gefahrenprognose des Innenministeriums. Zudem hatte das Innenministerium offenbar den „polizeilichen Notstand“ erklärt, weil angeblich nicht genug Polizeikräfte verfügbar waren.

Am 14. August 2010 marschierten, wie bereits in den Jahren zuvor, etwa 800 Nazis in einem Naziaufmarsch durch das niedersächsische Bad Nenndorf, um ihre geschichtsverdrehenden, volksverhetzenden und rassistischen Parolen zu verbreiten. Wie bereits in den Vorjahren formierte sich im Vorfeld breiter zivilgesellschaftlicher Protest. Unter dem Dach des DGB sollte eine friedliche Gegendemonstration unter dem Motto „Bad Nenndorf ist bunt“ gegen den Naziaufmarsch durchgeführt werden. Der DGB ist seit seiner Gründung einer der zentralen Akteure bei der Ausgestaltung und Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft. In der Tradition der während des NS-Regimes verbotenen Gewerkschaften engagiert sich der DGB seit jeher

friedlich gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Auch in Bad Nenndorf gab es in den vergangenen Jahren nie Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit den Demonstrationen des DGB. Im Gegenteil gelang es den Ordnerinnen und Ordnern immer wieder, mögliche Eskalationen durch beherztes Eingreifen im Ansatz zu unterbinden.

Offensichtlich kam der niedersächsische Verfassungsschutz in diesem Jahr zu einer gegenteiligen Einschätzung. So veröffentlichte der niedersächsische Verfassungsschutz eine Warnung vor angeblich bis zu 500 gewaltbereiteten sogenannten Linksextremisten. Gleichzeitig teilte das niedersächsische Innenministerium mit, es stünden angeblich nicht in ausreichender Zahl Polizeikräfte zur Verfügung, um beide Demonstrationen zu sichern. Dies verwunderte Beobachterinnen und Beobachter vor allem deshalb, weil beide Demonstrationen bereits seit Monaten angemeldet waren und am selben Wochenende in Niedersachsen keine weitere Großveranstaltung stattfand.

Mit Verweis auf diese Warnungen und die nicht ausreichenden Polizeikräfte untersagte der Landkreis sowohl den Aufmarsch der Nazis als auch die Gegendemonstration des DGB. Am 9. Juli 2010 hatte die Polizeidirektion offenbar 1 650 Polizisten angefordert. Nach einer neuen Gefahrenprognose des Verfassungsschutzes wurden am 5. August 2010 weitere 500 Polizisten angefordert. Nach Angaben der Versammlungsbehörde konnte das Innenministerium auch nach Anforderung in anderen Bundesländern nur weitere 300 Polizisten bereitstellen. Anlass genug für die Feststellung des polizeilichen Notstandes?

Das Verwaltungsgericht Hannover bestätigte in einer Entscheidung das Verbot der DGB‑Demon­stration, genehmigte aber den Naziaufmarsch. Bundestagsvizepräsident Thierse sprach nach dieser Entscheidung von einem Urteil, dass „auf beunruhigende Weise parteiisch“ sei. Erst das OVG Lüneburg ermöglichte in einer am Freitagabend ergangenen Entscheidung eine stationäre Kundgebung des DGB. Am 14. August 2010 demonstrierten schließlich über 1 200 Menschen friedlich und vielfältig gegen den Naziaufmarsch in Bad Nenndorf.

Wir fragen die Landesregierung:

  1. Hat das Innenministerium der Versammlungsbehörde empfohlen oder in anderer Weise Einfluss darauf genommen, die vom DGB angemeldete Demonstration zu verbieten?
  2. Welche Gründe führten dazu, dass nach Ansicht des Innenministeriums „nicht ausreichend“ Polizeikräfte zum Schutz beider Demonstrationen zur Verfügung standen, obwohl Niedersachsen z. B. bei den Castortransporten viel größere Versammlungen bewältigen muss und beide Versammlungen in Bad Nenndorf bereits seit Monaten bekannt waren?
  3. Wie bewertete die Landesregierung die Auswirkungen des Verbots der DGB-Demonstration bei gleichzeitiger Erlaubnis des Naziaufmarsches auf den zivilgesellschaftlichen friedlichen Protest in Bad Nenndorf und auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Dringliche Anfrage wie folgt:

„Hinsichtlich der Vorbemerkungen verweise ich auf die Vorbemerkungen der Antwort zur Dringlichen Anfrage der Fraktion der CDU „Polizeieinsatz in Bad Nenndorf“, Drs. 16/2725.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Dringliche Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport führt anlassbezogen vor besonders relevanten Großdemonstrationen eine Lagebesprechung durch. In einer solchen Besprechung am 04.08.2010 wurde vom Verfassungsschutz und dem Staatsschutz des LKA die gegenüber der ursprünglichen Gefahrenprognose deutlich erhöhten Teilnehmerzahlen und der Anteil gewaltbereiter Autonomer geschildert. Auf dieser Grundlage wurde die Polizeidirektion Göttingen gebeten, die Gefahrenprognose und den sich daraus ergebenden Bedarf an Einsatzkräften zu überprüfen.

Die Polizeidirektion hat dann auf der Basis eines erhöhten Kräftebedarfs eine weitere Kräfteanforderung gestellt, die im Ergebnis nicht mehr gedeckt werden konnte, da weder eigene Kräfte noch Unterstützungskräfte aus anderen Ländern oder der Bundespolizei verfügbar waren. Damit konnte im Falle der Durchführung beider Aufzüge keine Gewähr dafür geboten werden, dass tätliche Auseinandersetzungen mit massiven Rechtsgut-verletzungen unterbunden werden können. Die Polizeidirektion Göttingen hat im Rahmen der Beratung der unteren Versammlungsbehörde darauf hingewiesen, dass zu prüfen ist, ob die drohende erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit noch mit Auflagen oder nur durch Versammlungsverbote abgewehrt werden kann.

Im Übrigen verweise ich auf die Vorbemerkungen.

Zu 2.:

Grundlage jeder polizeilichen Einsatz- und Kräftekonzeption ist eine umfassende Beurteilung der Lage. Hierzu erstellte Lagebilder sind Voraussetzung für zielgerichtetes polizeiliches Handeln und dienen dem Erkennen, der Analyse und der Prognose polizeirelevanter Ereignisse und Entwicklungen. In Niedersachsen obliegt die Lagebewertung wie auch die anschließende Lagebewältigung der zuständigen Behörde/Dienststelle, wo bei größeren demonstrativen Aktionen Lageerkenntnisse grundsätzlich in einer Informationssammel- und -auswertestelle zusammengeführt werden.

Als Folge eines engen Informationsaustausches mit den Fachdienststellen des polizeilichen Staatsschutzes und des Verfassungsschutzes fließen dabei auch Informationen dieser Stellen mit ein und werden zusammengefasst bewertet. Diese Lagebewertung unterliegt bis zum Einsatztag einer ständigen Entwicklung. Bei Versammlungen unter Beteiligung von Angehörigen der rechts- und/oder linksextremistischen Szene verstärkt sich erfahrungsgemäß die Mobilisierung zur Veranstaltungsnähe hin. Dieses kann, wie im Fall Bad Nenndorf, auch eine kurzfristige deutliche Erhöhung der Prognosen hinsichtlich zu erwarteter Teilnehmer und Störer mit sich bringen.

Nach der zuletzt aufgrund weiterer Erkenntnisse vorgenommenen Lagebewertung und der darauf basierenden polizeilichen Kräftekonzeption wären für den ausreichenden Schutz beider Aufzüge am 14.08.2010 in Bad Nenndorf ca. 2.500 Einsatzkräfte erforderlich gewesen. Letztlich bereitgestellt werden konnten aber nur etwa 1.950. Niedersachsen stellte davon etwa 1.150 Beamtinnen/Beamte, weitere ca. 800 wurden aus anderen Ländern bzw. von der Bundespolizei entsandt. Darüber hinaus waren bereits in der Nacht zum 14.08.2010 weitere 150 niedersächsische Polizeivollzugbeamtinnen und -beamte einzusetzen, die natürlich für die Maßnahmen am 14.08.2010 nicht zur Verfügung standen.

Aufgrund zahlreicher anderer Einsatzlagen an besagtem Wochenende in Niedersachsen standen weitere geschlossene Einheiten der niedersächsischen Polizei ebenfalls nicht zur Verfügung. Allein für die vier Heimspiele niedersächsischer Fußballvereine in der 1. Hauptrunde des DFB-Pokals sowie aus Anlass eines Sommercamps von Castorgegnern im Wendland waren ca. 750 und bei vielerlei Sommer- und andere Volksfesten insgesamt weitere ca. 400 Polizeibeamtinnen und -beamte einzusetzen. Ein Kräfteabzug aus diesen Lagen wäre nicht möglich gewesen, ohne die Sicherheit der Veranstaltungen in Frage zu stellen und den allgemeinen Einsatz- und Streifendienst der Polizei inakzeptabel zu schwächen.

Auch aus anderen Ländern und von der Bundespolizei war über die zugesagten Kräfte hinaus keine Unterstützung mehr zu erlangen. Zwei niedersächsische Unterstützungsersuchen führten aufgrund dortiger Einsatzlagen zu keinen weiteren Kräfteangeboten. Auch der parallele Kräftebedarf eines anderen Landes an diesem Wochenende konnte nicht vollständig gedeckt werden.

Mit dem Castoreinsatz ist die Kräftelage für den Einsatz in Bad Nenndorf überhaupt nicht vergleichbar. Anlässlich der Castortransporte bringt Niedersachsen regelmäßig etwa 4.500 eigene Beamtinnen und Beamte in den Einsatz. Hinter dieser Zahl verbergen sich zu einem großen Anteil aber auch Polizeibeamtinnen und -beamte, die nicht den geschlossenen Einheiten der Landesbereitschaftspolizei oder der Alarmhundertschaften der Polizeidirektionen angehören, sondern andere Funktionen beim Castoreinsatz wahrnehmen, wie beispielsweise die Mitarbeit in den Stäben oder in Gefangenensammelstellen.

Für die zu verstärkenden Einsatzmaßnahmen in Bad Nenndorf wären weitere geschlossene Einheiten erforderlich gewesen, die jedoch nicht zur Verfügung standen. Von der Gesamtstärke niedersächsischer geschlossener Einheiten waren am Wochenende 13. bis 15.08.2010 nahezu 70 % der Kräfte im Einsatz. Dass die Hundertschaften nicht ihre vollen Stärken erreichten, wie dies zum Castoreinsatz der Fall ist, liegt insbesondere daran, dass sowohl die Planungssicherheit im Hinblick auf den Termin als auch die zeitlichen Rahmenbedingungen hierfür andere sind. Der Castortermin wird, um eine größtmögliche Unterstützung sicherzustellen, bewusst außerhalb der Ferien- und Volksfestzeiten gelegt und steht bundesweit lange im Voraus als fixer Termin für die Polizei fest. Beim Einsatz in Bad Nenndorf hingegen hatten Behörden keinen Einfluss auf die Festlegung des Versammlungs-termins, der noch in der anhaltenden Urlaubszeit lag. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Terminverlegung vom Veranstalter auch kurzfristig immer noch vorgenommen werden kann.

Die niedersächsische Polizei hat am in Rede stehenden Wochenende alle verfügbaren Einsatzeinheiten in größtmöglicher Stärke in den Einsatz gebracht und ist damit einmal mehr bis an die zumutbare Belastungsgrenze herangegangen.

Zu 3.:

Die Landesregierung konnte nach der bisherigen Rechtsprechung zum polizeilichen Notstand davon ausgehen, dass das Verwaltungsgericht Hannover bei Anerkennung der Gefahrenprognose der Polizei und des polizeilichen Notstands sowohl das Verbot des sogenannten Trauermarsches als auch das Verbot der Gegendemonstration bestätigen wird. Die – nicht rechtskräftigen - Beschlüsse des Verwaltungsgerichtes Hannover, nach denen der so genannte Trauermarsch stattfinden dürfe und das Verbot der Gegendemonstration Bestand habe, hat sie so nicht erwartet. Die Polizeidirektion Göttingen hat dann den Landkreis Schaumburg als untere Versammlungsbehörde bei seiner Beschwerde gegenüber dem Niedersächsischen OVG unterstützt mit dem Ziel, das Verbot des sogenannten Trauermarsches wiederherzustellen.

In einem demokratischen Rechtsstaat obliegt es den unabhängigen Gerichten, über Rechtsstreitigkeiten verbindlich zu entscheiden. Dabei müssen die Richterinnen und Richter nach Recht und Gesetz und ohne Ansehen der am Verfahren beteiligten Personen zu ihrer Entscheidung gelangen. Politische Erwägungen darf das Gericht nicht berücksichtigen.

Die ausführende Gewalt – Landesregierung, Verwaltung, Polizei – ist in einem demokratischen Rechtsstaat an die Entscheidungen der Gerichte gebunden und hat diese zu akzeptieren und umzusetzen. Ich bedanke mich bei der Polizei, dass sie das so erfolgreich geschafft hat.“

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erstellt am:
19.08.2010

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