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Gewalt gegen Polizeibeamte

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 10.06.2010; Fragestunde Nr. 4


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hans-Christian Biallas, Joahnn-Heinrich Ahlers, Rudolf Götz und Angelika Jahns (CDU); Es gilt das gesprochene Wort!

Seit Jahren sind kontinuierlich steigende Fallzahlen bei Übergriffen gegen die Polizeibeamtinnen und -beamten unseres Landes, aber auch im bundesweiten Schnitt festzustellen. Die Anzahl der Fälle von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist in Niedersachsen seit dem Jahr 2001 um etwa 60 Proz gestiegen. Im Jahr 2008 wurden beinahe 2 500 Fälle in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst.

Bundesweit ist in dem vergleichbaren Zeitraum ebenfalls eine deutliche Steigerung von mehr als 32 Prozent zu verzeichnen. Die Fälle, in denen der Widerstand mit anderen Delikten gemeinsam verübt wurde, wie z. B. Körperverletzungsdelikte, sind hier noch gar nicht erfasst. Auch über die Qualität der Angriffe, d. h. zu der Frage, ob die Angriffe und Widerstandshandlungen gewaltintensiver wurden, trifft die Polizeiliche Kriminalstatistik keine Aussage.

Nachdem es bereits im Jahr 2000 eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts (KFN) hierzu gegeben hat, haben im März 2009 das KFN und das Landeskriminalamt Niedersachen vereinbart, diesen Phänomenbereich erneut zu untersuchen.

Die Frage, ob der aktuelle Sanktionsrahmen für Gewaltdelikte gegenüber Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten und anderen Amtsträgern verändert werden muss, wird schon seit einiger Zeit beraten. Wegen des deutlichen Anstiegs der Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte sowie auch wegen der wachsenden Anzahl von Übergriffen auf Feuerwehrleute und Rettungskräfte ist eine Novellierung der einschlägigen strafrechtlichen Sanktionsnormen geboten, um den strafrechtlichen Schutz dieses Personenkreises zu verbessern.

Wir fragen die Landesregierung:

  1. Wie bewertet die Landesregierung vor diesem Hintergrund den vorgelegten Gesetzesentwurf des Bundesministeriums der Justiz?
  2. Welche Schlüsse zieht die Landesregierung aus der Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts?
  3. Welche weiteren Entwicklungen erwartet die Landesregierung bei der Gewalt gegen Polizeibeamte, insbesondere im Zusammenhang mit den bevorstehenden Castortransporten?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Das Phänomen der Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte ist ein drängendes innen- und gesellschaftspolitisches Thema.

Ausführliche Darstellungen zu der Entwicklung erfolgten bereits u. a. zu der Mündlichen Anfrage „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte: Wie geht die Landesregierung mit den aktuellen Entwicklungen um?“ der Abg. Jörg Bode und Jan-Christoph Oetjen (FDP), LT-Drs. 16/1335 (Frage 1), in der Beantwortung der Kleinen Anfrage des Abg. Jan-Christoph Oetjen [(FDP), LT-Drs. 16/1441] und im Zusammenhang mit Befassung der mit großer Mehrheit von der CDU, FDP und SPD beschlossenen Landtagsentschließung „Gewalt gegen Polizeibeamte konsequent entgegentreten!“ vom 20.01.2010 (LT-Drs. 16/1342 unter Einbeziehung der LT-Drs. 16/2002 und 16/2106). Insoweit wird darauf Bezug genommen.

Gegenüber dem Jahr 2008 ist im Jahr 2009 die Anzahl der in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für Niedersachsen erfassten Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte erneut auf dann 2.507 Fälle gestiegen.

Zu diesem Phänomenbereich hat Niedersachsen bereits vor gut einem Jahr eine eingehende Untersuchung initiiert. Dieser haben sich Anfang 2010 10 Bundesländer – neben Niedersachsen die Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen angeschlossen – das KFN mit einer repräsentativen Polizeibefragung „Gewalt gegen Polizeibeamte“ beauftragt. An der online durchgeführten Befragung haben mehr als 22.000 Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte teilgenommen, fast 21.000 Fragebögen können für die Untersuchung ausgewertet werden. Dies ist eine valide Datenbasis, um mit Maßnahmen gezielt anzusetzen, die dem verbesserten Schutz der Polizei dienen sollen.

Erste Ergebnisse der Studie „Gewalt gegen Polizeibeamte“ wurden vom Innenminister gemeinsam mit Prof. Dr. Pfeiffer (Direktor des KFN) zur 190. IMK-Sitzung vorgestellt. Die bisherigen Ergebnisse lassen noch keine landesspezifischen Schlussfolgerungen zu; sie beziehen sich auf die Gesamtheit der an der Befragung teilnehmenden Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten.

Ein erstes Ergebnis ist, dass ein sehr hoher Anteil der befragten Polizisten in ihrem Dienst im Jahr 2009 schon mehrfach Aggressionen ausgesetzt war. Das reicht von Beschimpfungen (81,9%) über körperliche Attacken (26,5%) bis hin zu Angriffen mit Waffen (8,6%). Im Streifendienst liegen diese Werte sogar noch höher.

Schwere Verletzungen mit mindestens sieben Tagen Dienstunfähigkeit haben im Vergleich von 2005 zu 2009 um 60,1% zugenommen. Am stärksten fällt der Anstieg bei Einsätzen aus, die wegen innerfamiliärer oder sonstiger Streitigkeiten, wegen Störungen der öffentlichen Ordnung oder wegen Demonstrationen erfolgt sind.

Bemerkenswert ist, dass besonders schwere Gewalttaten, die eine Dienstunfähigkeit von mindestens zwei Monaten hervorgerufen haben, seit 2007 um 28,8% zurück gegangen sind. Das könnte dafür sprechen, dass die Beamten in den letzten Jahren durch verbesserte Ausrüstung, Schutzkleidung und Ausbildung effektiver als früher vor schweren Verletzungsfolgen geschützt sind.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Der vom Bundesministerium der Justiz am 25. Mai 2010 vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, der innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgestimmt ist, sieht vor allem eine Erhöhung des in § 113 Absatz 1 StGB vorgesehenen Strafrahmens für Widerstand gegen Vollstreckungskräfte von zwei auf drei Jahre vor. Mit der Erweiterung des Sanktionsrahmens wird ein wichtiges Signal der gesellschaftlichen Ächtung von Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamtinnen und -beamte im Einsatz gegeben und die Abschreckungswirkung des Straftatbestandes erhöht. Ebenfalls zu begrüßen ist die geplante Schließung einer Strafbarkeitslücke, indem Waffen und andere „gefährliche Werkzeuge“ künftig gleich behandelt werden. Schließlich soll der erhöhte strafrechtliche Schutz vor vollständiger oder teilweiser Zerstörung für Kraftfahrzeuge der Polizei und der Bundeswehr auch auf Kraftfahrzeuge der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder von Rettungskräften ausgeweitet werden.

Der Gesetzesentwurf wird von der Landesregierung im Grundsatz begrüßt.

Nicht enthalten sind in dem Gesetzesentwurf der Schutz von Feuerwehrleuten und Rettungskräften im Einsatz. Auch der Schutz von normalen Dienstverrichtungen, insbesondere von Polizeibeamtinnen und -beamten, ist nicht berücksichtigt. Die Innenministerkonferenz hat sich in der Sitzung am 27./28. Mai 2010 für entsprechende Regelungen ausgesprochen.

Zu 2.:

Das aus den ersten Ergebnissen der KFN-Studie ersichtliche Ausmaß an genereller Aggression gegenüber Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten spiegelt eine zunehmende Respektlosigkeit gegenüber staatlichen Amtsträgern wider. Die Polizei als staatliche Kerninstitution spürt solche Tendenzen in besonderer Weise. Die Politik ist daher gefordert, staatlichen Amtsträgern, insbe-sondere Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten in ihrem Dienst den Rücken zu stärken. Dies gilt in besonderem Maß, wenn die Aggressionsbereitschaft in Teilen der Gesellschaft gegenüber Staatsbediensteten zunimmt.

Eine strafrechtliche Novellierung ist sicherheits- und rechtspolitisch notwendig und begründet. Insoweit verweise ich auf die Antwort zu Frage 1.

Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte erfahren Gewalt als körperlich und seelisch schwere Beeinträchtigung. Die Befragung zeigt, dass psychische und psychosomatische Leiden nach Gewalterlebnissen sehr ernst genommen werden müssen. Die professionelle Betreuung/Nachsorge von Betroffenen verdient ein besonderes Augenmerk.

Die Übergriffe zeigen in aller Deutlichkeit, welche Risiken Polizeivollzugsbeamtinnen und ­­-beamte in ihrem alltäglichen Dienst tragen müssen. Die betroffenen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten sind schon jetzt weitestgehend materiell abgesichert. So erbringt der Dienstherr bereits erhebliche Fürsorgeleistungen (z.B. Weitergewährung von Bezügen, Beihilfe, Heilfürsorge, Dienstunfallversorgung, Ersatz von Sach- und Vermögensschäden).

Das Verfahren wird dadurch beschleunigt und verbessert, dass in den jeweiligen Personal-bereichen der Polizeibehörden bis auf die Ebene der Polizeiinspektionen für diese Thematik entsprechend feste Ansprechpartner benannt sind. Sie beraten und unterstützen die von Gewalt betroffenen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten unter Fürsorgeaspekten und geben insbesondere bei den erforderlichen Maßnahmen Hilfestellungen. Insbesondere bei der Rechtsschutzgewährung für Zivilverfahren (z.B. bei Schmerzensgeldklagen) ist sichergestellt, dass die bestehenden Vorschriften im Sinne der von Gewalt betroffenen Beamtinnen und Beamten ausgelegt werden.

Die staatliche Fürsorgepflicht hat gerade bei diesem Thema eine besondere Bedeutung.

Es zeigt sich, auch belegt durch andere Untersuchungen, dass bei Gewaltübergriffen gegen Polizisten Alkoholismus eine ganz erhebliche Rolle spielt. Deshalb müssen künftig Präventions-maßnahmen gegen Alkoholmissbrauch, insbesondere bei Jugendlichen, fortgeführt und weiter intensiviert werden.

Weiterhin wird deutlich, wie wichtig Initiativen zum Ausbau von Zivilcourage und zur Ächtung von Gewalt sind. In Niedersachsen wird seit kurzem ein „Tag für Zivilcourage“ ausgerichtet, um öffentlichkeitswirksam im ganzen Land gegen Gewalt zu sensibilisieren, neue Initiativen etwa im öffentlichen Nahverkehr anzuregen und Menschen, die mit gutem Beispiel voran gehen, für ihren Mut zu würdigen. Solche gesellschaftspolitischen Ansätze müssen forciert werden, um ein Klima des Respekts, der zwischenmenschlichen Achtung und Gewaltlosigkeit zu fördern.

Die KFN-Befragung hat zudem ergeben, dass während Demonstrationen vor allem von extremistischen Gewalttätern ein erhebliches Gewaltpotenzial gegen Amtsträger ausgeht. Daher muss eine moderne Präventionsarbeit auch die klare Ächtung politisch motivierter Gewalt gegen Polizeibeamte zum Thema machen.

Nur mit einem abgestimmten Handlungskonzept, das kriminalpolitisch, präventiv und in puncto Nachsorge klare Signale setzt, kann dem Phänomen „Gewalt gegen Polizei“ wirksam begegnet werden. Dafür hat die Polizeibefragung des KFN den entscheidenden Grundstein und eine repräsentative Datenbasis geliefert.

Die weitere Analyse der bisher vorgelegten ersten Ergebnisse bleibt abzuwarten.

Zu 3.:

Die Sicherheit im Zusammenhang mit den Castortransporten aus dem französischen La Hague in das Transportbehälterlager Gorleben war und ist trotz überwiegend friedlicher Proteste nur durch den Einsatz starker Polizeikräfte zu gewährleisten. Ursache hierfür sind regelmäßig erhebliche Stör- und Blockadeaktionen bis hin zu schweren Straftaten sowohl während der eigentlichen Transportdurchführung, als auch bereits im Vorfeld.

Extremistische Gewalttäter, insbesondere aus der autonomen Szene, sehen im Zuge der Proteste auch Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte als legitimes Mittel zur Erreichung ihrer Ziele an. Erfahrungen zeigen, dass sich auch erlebnisorientierte Gewalttäter an den Protesten beteiligen. Nicht zu unterschätzen sind dabei gruppendynamische Phänomene und andere psychologische Aspekte bei Massenprotestaktionen. Die Zahl der Teilnehmer dieser Personengruppen lässt sich für den bevorstehenden Transport derzeit nicht genau prognostizieren. Die zunehmende öffentliche Diskussion über die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken und über die Aufhebung des Moratoriums für die Endlagererkundung lässt neben einem Anstieg an friedlichen Protesten auch eine vermehrte Teilnahme gewaltbereiter Personen erwarten.

Vor dem Hintergrund einer insgesamt feststellbaren Verringerung der Anerkennung polizeilicher Autorität und der bereits im Vorfeld verzeichneten gewalttätigen Aktionen im Raum Gorleben (zuletzt am 24.05.2010 am Erkundungsbergwerk), stellt sich die Polizeidirektion Lüneburg auf einen Anstieg von Quantität und Qualität der Gewaltanwendung gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte beim anstehenden Castortransport ein.

Presseinformation

Artikel-Informationen

erstellt am:
11.06.2010

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