Verwendung von Gutachten bei Asylverfahren
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 28.04.2010; Dringliche Anfrage 14 a
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Dringliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen; Es gilt das gesprochene Wort!
Die Fraktion hatte gefragt:
Die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) berichtete in ihrer Ausgabe vom 21. April 2010: "Ein Nervenarzt aus Lüneburg soll für Behörden Gefälligkeitsgutachten erstellt haben. Wie das TV Politmagazin‚ Report Mainz’ am Montagabend berichtete, wird dem 75-jährigen Professor vorgeworfen, kranken Asylbewerbern die Reisefähigkeit und Lehrern gegen ihren Willen die Dienstunfähigkeit bescheinigt zu haben. In mindestens sieben Fällen habe Theo V. Asylbewerber nur kurz und oberflächlich untersucht, bevor er feststellte, dass ihrer Ausweisung keine psychische Störung entgegenstehe, sagte Kai Weber, Sprecher des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, gestern. In Gerichtsverfahren sei V. von anderen Experten eine tendenziöse, wertende Begutachtung vorgeworfen worden. (…) Der Lüneburger Nervenarzt, der in den 80er Jahren das dortige Landeskrankenhaus geleitet hat, ist zudem wegen der Begutachtung von Lehrern in die Kritik geraten." Ein in dem Artikel zitierter ehemaliger Lehrer wirft den Behörden vor, sie wollten durch den gezielten Einsatz des Gutachters Pensionsansprüche vermeiden.
Mit Beschluss vom 11. August 2009 hat das Landgericht Hannover in seinem Beschluss (Az. 28 T 43/09; 44 XIV 82/09) die sofortige Entlassung eines Flüchtlings aus der Abschiebungshaft angeordnet und festgestellt, dass die Inhaftierung des Betroffenen in Abschiebungshaft seit dem 28. Juli 2009 rechtswidrig war. In seiner Begründung folgt das Landgericht ausdrücklich nicht dem von der Ausländerbehörde des Landkreises Emsland eingeholten nervenärztlichen Gutachten von Professor V. vom 29. Juli 2009, der "ohne eingehende Begründung das Vorliegen einer psychischen Störung ausschließt und sich im Übrigen in wertender Weise zu nicht medizinischen Fragen äußert". Obwohl in einer Anfrage der Abgeordneten Filiz Polat (GRÜNE) vom 12. August 2009 ausdrücklich zitiert wurde, dass es sich um einen Beschluss des Landgerichts Hannover handelt, antwortete das Innenministerium darauf wie folgt: "Dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres, Sport und Integration ist kein Fall bekannt, in dem ein Verwaltungsgericht ein Gutachten von Herrn Prof. Dr. med. V. infrage gestellt oder gar verworfen hat." Auf den Unterschied zwischen einem Landgericht und einem Verwaltungsgericht ging das Innenministerium dabei nicht ein. Zu dem genannten Gutachten nimmt Dr. med. Hans Wolfgang Gierlichs, zertifizierter Gutachter und Supervisor der Landesärztekammer Nordrhein-Westfalen für die Begutachtung in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Stellung mit der Aussage: "Zusammenfassend weist das Gutachten erhebliche methodische Mängel auf, es ist darüber hinaus tendenziös."
Das Innenministerium weist sowohl in seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage als auch in seiner Stellungnahme gegenüber der HAZ darauf hin, dass die Ausländerbehörden vor Ort selbst entscheiden, welche Gutachter sie beauftragen. Zudem antwortete die Landesregierung am 29. August 2008 auf eine Anfrage der Abgeordneten Polat: "Die von den niedersächsischen Ausländerbehörden in Auftrag gegebenen ärztlichen Gutachten werden nicht statistisch erfasst."
Wir fragen die Landesregierung:
- Nach welchen Kriterien wählen die Ausländerbehörden, Gesundheitsämter und die Landesschulbehörde Ärztinnen und Ärzte als Gutachterinnen und Gutachter in ausländerrechtlichen Angelegenheiten oder im Zusammenhang mit der Versetzung von Lehrkräften wegen Dienstunfähigkeit aus?
- An welchen rechtlichen Vorgaben bezüglich Qualifikationsanforderungen an Ärztinnen und Ärzte und deren Gutachten müssen sich Landesregierung und niedersächsische Behörden bei medizinischen Gutachten im ausländerrechtlichen und dienstrechtlichen Bereich orientieren?
- Wird die Landesregierung durch eine Weisung an die niedersächsischen Behörden oder ähnliche Maßnahmen verbindlich darauf hinwirken, dass Professor V. aufgrund der Mängel nicht mehr mit Gutachten beauftragt wird, bzw. warum wird sie es nicht tun?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Dringliche Anfrage wie folgt:
Die Ausländerbehörden führen das Ausländerrecht im Rahmen des übertragenen Wirkungskreises weisungsgebunden aus. Zu ihren Aufgaben gehört auch die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländerinnen und Ausländer, die ihrer Ausreiseverpflichtung selbst nicht nachkommen. Die Ausreiseverpflichtung wird in aller Regel bereits vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Rahmen der Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse festgestellt, da es sich bei der überwiegenden Zahl der ausreisepflichtigen Ausländerinnen und Ausländer um abgelehnte Asylantragsteller handelt. Die Entscheidungen des Bundesamtes sind ganz überwiegend im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren bestätigt worden. An diese im Asylverfahren getroffenen Entscheidungen über die Ausreiseverpflichtung von Ausländern des Bundesamtes sind die Ausländerbehörden gebunden.
Wenn die vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländerinnen und Ausländer ihrer Ausreiseverpflichtung nicht selbst nachkommen, sind die Ausländerbehörden gesetzlich verpflichtet, den Aufenthalt zwangsweise durch Abschiebung zu beenden. Es handelt sich dabei um eine zwingende Rechtsfolge. Der Gesetzgeber hat somit den Ausländerbehörden kein Ermessen eingeräumt.
Die Ausländerbehörden haben bei der Vorbereitung von Abschiebungen lediglich noch zu prüfen, ob rechtliche Hindernisse einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen, also ob inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse bestehen. Ein derartiges Vollstreckungshindernis kann beispielsweise in der gesundheitlichen Beeinträchtigung ausreisepflichtiger Ausländerinnen und Ausländer begründet sein, wenn geltend gemacht wird, dass sie aus medizinischen oder psychischen Gründen nicht reisefähig sind. Zur Überprüfung dieses Vorbringens hat dann die Ausländerbehörde in erster Linie amtsärztliche, in besonders gelagerten Fällen auch Gutachten externer Fachärzte einzuholen. Mit Hilfe dieser Gutachten ist dann die Frage zu klären, ob die betreffende Person gesundheitlich in der Lage sein wird, in das Herkunftsland – gegebenenfalls unter ärztlicher Betreuung – auszureisen.
Ärztlich zu begutachten ist somit, ob sich der Gesundheitszustand durch die Ausreise erheblich verschlechtern würde. Eine Bewertung der Behandlungsmöglichkeit vorgetragener Erkrankungen im Herkunftsland ist ausdrücklich nicht Gegenstand dieser ärztlichen Untersuchungen über die Reisefähigkeit, weil diese Frage bereits vom Bundesamt im Rahmen der Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse geprüft und bejaht worden ist.
Die Durchführung des Aufenthaltsgesetzes und damit der Vollzug von Abschiebungen durch die Ausländerbehörden unterliegen der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung. In diesen Verfahren wird auch über die Reisefähigkeit ausreispflichtiger Ausländerinnen und Ausländer entschieden, wobei dann auch die von den Ausländerbehörden eingeholten Gutachten von den Verwaltungs-gerichten zu bewerten sind. Die Verwaltungsgerichte sind aber nicht daran gebunden, ihre Entscheidungen auf der Grundlage der von den Ausländerbehörden eingeholten ärztlichen Gutachten zu treffen, sondern können auch selbst entsprechende Gutachten einholen. In der Antwort auf die Anfrage der Abgeordneten Polat vom 12.08.2009 hat das Ministerium darauf hingewiesen, dass ihm kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein Verwaltungsgericht ein Gutachten von Prof. Dr. V. in Frage gestellt oder verworfen hat.
Unabhängig von der Zulässigkeit der Abschiebung, haben die Ausländerbehörden in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob der ausreispflichtige Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen ist. Auch bei dieser Entscheidung handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung. Vielmehr enthält § 62 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes ein Konditionalprogramm, d.h. wenn die dort genannten Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, ist die Abschiebungshaft zwingend anzuordnen. Als Beispiele für die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen nenne ich die Nrn. 4 und 5. Danach ist die Bedingung für die Anordnung der Haft erfüllt, wenn sich ein Ausländer in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat oder der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Bei der Abschiebungshaft handelt es sich um eine freiheitsentziehende Maßnahme. Sie unterliegt deshalb einem richterlichen Vorbehalt. Die Ausländerbehörde muss deshalb einen entsprechenden Haftbeschluss beantragen.
Die Zuständigkeit für die Anordnung von Abschiebungshaft liegt bei den ordentlichen Gerichten. Die Entscheidungen über diese Anträge auf Freiheitsentziehung werden somit vom Haftrichter des zuständigen Amtsgerichts getroffen; Beschwerden gegen diese erstinstanzlichen Entscheidungen können bei den Landgerichten erhoben werden.
Im Rahmen der Entscheidung über die von den Ausländerbehörden beantragte Haft zur Sicherung der Abschiebung ist von den Gerichten auch darüber zu entscheiden, ob ausreisepflichtige Ausländerinnen oder Ausländer haftfähig sind. Hierbei kann es dann auch auf die Bewertung ärztlicher Gutachten ankommen. Das Gericht kann für seine Entscheidung aber auch selbst ein entsprechendes Gutachten einholen. In einer derartigen Haftsache hat das Landgericht Hannover in einem Beschwerdeverfahren gegen die zuvor vom Amtsgericht Hannover angeordnete Abschiebungshaft ein Gutachten von Prof. Dr. V. bemängelt und sich seinen Feststellungen nicht angeschlossen.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Ausländerbehörden, die zur Feststellung der Reisefähigkeit ärztliche Gutachten einholen, wenden sich in erster Linie an die Amtsärztinnen und Amtsärzte ihres Gesundheitsamtes. Erst in den Fällen, in denen gesundheitliche Beeinträchtigungen geltend gemacht werden, die eine Begutachtung durch einen Facharzt erfordern, werden externe Gutachten eingeholt, damit die Frage der Reisefähigkeit unter fachspezifischen Aspekten bewertet werden kann.
Die Dienstunfähigkeit sowie das Verfahren zur Feststellung der Dienstunfähigkeit sind in § 26 des Beamtenstatusgesetzes und den §§ 43 ff. des Niedersächsisches Beamtengesetz geregelt. Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 NBG ist die Dienstunfähigkeit aufgrund einer ärztlichen Untersuchung festzustellen. Ärztliche Untersuchungen werden gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 NBG von Amtsärztinnen, Amtsärzten, beamteten Ärztinnen oder beamteten Ärzten durchgeführt. Ausnahmsweise kann gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 NBG im Einzelfall auch eine sonstige Ärztin oder ein sonstiger Arzt zur Durchführung bestimmt werden. Im Geschäftsbereich des Kultusministeriums werden diese Untersuchungen ausschließlich von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt, die bei den Gesundheitsämtern beschäftigt sind. Im Rahmen der Erstellung amtsärztlicher Gutachten wegen Dienstunfähigkeit kann es erforderlich sein, zusätzliche ärztliche bzw. ergänzende fachärztliche Gutachten einzuholen. Die Entscheidung darüber trifft die Amtsärztin oder der Amtsarzt nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung, nicht die Landesschulbehörde. Nur in diesem Zusammenhang können auch Ärztinnen und Ärzte, die nicht Amtsärzte sind, bei der Frage, ob Dienstunfähigkeit vorliegt, mitwirken. Die Gesamtbewertung ist jedoch seitens der Amtsärztin oder des Amtsarztes vorzunehmen.
Zu 2.:
Das Aufenthaltsgesetz enthält keine rechtlichen Vorgaben bezüglich der Qualitätsanforderungen an Ärztinnen und Ärzte. Im Hinblick auf die Qualität der ärztlichen Gutachten hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom, 11.09.2007 – 10 C 8.07 – Kriterien festgeschrieben, anhand derer zu bewerten ist, ob das erstellte Gutachten den fachlichen Anforderungen genügt. Das Bundesverwaltungsgericht stellt u.a. fest, dass sich
"… aus einem fachärztlichen Attest nachvollziehbar ergeben (muss), auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose erstellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Ein Attest, das keine Angaben über eine eigene ärztliche Exploration und Befunderhebung enthält und sich im Wesentlichen auf die Wiedergabe der Angaben des Antragstellers (Anmerkung: also auf die Angaben der Ausländerin oder des Ausländers) beschränkt und ohne nähere Erläuterung bescheinigt, dass die von ihm gemachten Angaben für das Vorhandensein einer posttraumatischen Belastungsstörung sprächen und in dem keine nachvollziehbar eigene Diagnose gestellt ist, genügt diesen Anforderungen nicht."
Anhand dieser Kriterien haben die Ausländerbehörden die von ihnen in Auftrag gegebenen fachärztlichen Gutachten zu bewerten und danach ihre Entscheidung zu treffen.
Auch im Beamtenrecht gibt es keine rechtlichen Vorgaben bezüglich der Qualitätsanforderungen an Ärztinnen und Ärzte. Grundlage für die Entscheidung der Landessschulbehörde über die Dienstfähigkeit einer Beamtin oder eines Beamten sind die tragenden Feststellungen und Gründe des mitgeteilten Ergebnisses der amtsärztlichen Untersuchung. Ob die betroffene Lehrkraft die Einschätzung hinsichtlich ihrer Dienstfähigkeit teilt, ist unerheblich.
Zu 3.:
Die Ausländerbehörden haben beim Vollzug des Aufenthaltsgesetzes nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, welche Amtsärzte, Fachärzte oder sonstige Gutachter sie einschalten, wenn medizinische oder psychologische Fragen bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen bewertet werden müssen.
Die Landesregierung sieht nach wie vor keine Veranlassung, die Ausländerbehörden anzuweisen, welche Ärztinnen oder Ärzte mit der Erstellung von Gutachten über die Reisefähigkeit ausreisepflichtiger Ausländerinnen und Ausländer zu beauftragen sind.
Artikel-Informationen
erstellt am:
28.04.2010
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010