Artikel-Informationen
erstellt am:
19.02.2010
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hans-Christian Biallas und Reinhold Coenen (CDU); Es gilt das gesprochene Wort!
Die Abgeordneten hatten gefragt:
Am 22. Januar 2010 kam es in Göttingen zu einem möglicherweise politisch motivierten Brandanschlag auf das Göttinger Kreishaus, bei dem ein 25-Jähriger leicht verletzt wurde. Der Polizei zufolge haben unbekannte Täter in einer Teeküche der Ausländerbehörde Feuer gelegt. In der Nähe des Tatortes fanden die Ermittler nach Angaben des Leiters der Polizeiinspektion Göttingen ein Papier, das einen Zusammenhang mit einer Abschiebung aus Göttingen nahe legt.
Insgesamt ist die extremistische Szene in Deutschland nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden, so Die Welt vom 28. Dezember 2009, derzeit einem gravierenden Wandel unterworfen. Während die Zahl politisch motivierter Gewaltstraftaten aus dem rechten Spektrum etwa in Hamburg 2009 insgesamt rückläufig sei, zeichne sich ab, dass die Zahl der Gewaltdelikte aus der linken Szene deutlich zunehme, so Hamburgs Verfassungsschutzchef Heino Vahldiek.
Der Focus berichtet in seiner Ausgabe 53/2009, dass die deutschen Sicherheitsbehörden auf einen dramatischen Anstieg von Straftaten mit linksextremem Hintergrund hinwiesen. Die Quote von knapp 6 000 Delikten sei nach der Statistik des Bundeskriminalamtes in den ersten drei Quartalen von 2009 um 38,9 % gestiegen.
Wir fragen die Landesregierung:
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Der Extremismus in jeglicher Form stellt die Gesellschaft, die Sicherheitsbehörden sowie den Staat allgemein vor große Herausforderungen.
Nicht nur von Islamisten und Rechtsextremisten gehen Gefahren aus – auch der Linksextremismus fordert den Staat zunehmend heraus. Hier gibt es eine besorgniserregende Gewaltentwicklung, die hauptsächlich von der sog. linksautonomen Szene ausgeht. Diese lehnt in ihrem anarchistischen Verständnis Recht und Gesetz ab. Sie bekämpft die freiheitliche demokratische Grundordnung. Oft sind Polizeibeamte ihr bevorzugtes Angriffsziel. Das gewaltbereite linksextremistische Personenpotenzial ist im vergangenen Jahr in Niedersachsen auf 720 Personen angewachsen.
Zu welchen Gewaltausbrüchen Autonome fähig sind, erleben wir immer wieder auf Demonstrationen, vor allem in Berlin und Hamburg.
Polizeibeamte werden massiven Gewalt- und Brandattacken ausgesetzt Die Zahl der Verletzten und Sachschäden ist immens. Diese Kampfansage von Linksextremisten an den demokratischen Rechtsstaat dürfen wir nicht achselzuckend hinnehmen. Der Rechtsstaat muss – wie bei Rechtsextremisten auch – Zähne zeigen.
Linksautonome demontieren das Recht auf Versammlungsfreiheit. Sie mischen sich häufig unter friedliche Demonstranten und missbrauchen Kundgebungen für ihre Zwecke.
Friedliche Demonstranten als "Schutzschild" zu missbrauchen, hat in linksautonomen Kreisen Methode. Als gemeinsamer Anknüpfungspunkt dient dabei der vermeintliche Einsatz für Werte wie soziale Gerechtigkeit, Antimilitarismus und Antifaschismus. Dies ist jedoch nur der Versuch linksautonomer Kreise, die eigene Intoleranz und Gewaltbereitschaft zu rechtfertigen.
Vor allem politische Großereignisse werden zum Anlass für linksextremistische Aktivitäten gewählt. Dazu zählen auch die Castor-Transporte nach Gorleben.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Zu den Gefahren, die von gewaltbereiten Linksextremisten künftig ausgehen könnten, haben das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz am 22. Dezember 2009 in einer gemeinsamen "Gefährdungsbewertung für den Phänomenbereich der PMK-Links" für die Bundesrepublik Deutschland folgende Prognose abgegeben:
"Generell ist bei Demonstrationen und Veranstaltungen mit aktuellen oder jährlich wiederkehrenden Bezugsereignissen, Solidaritätsveranstaltungen, veranstaltungsunabhängigen spontanen Aktionen, mit der Begehung von Straftaten zu rechnen. Regionale Schwerpunkte sind sowohl Gebiete mit einer starken linksextremen Szene (Bsp. Berlin, Hamburg), als auch Gegenden mit entsprechendem lokalen Bezugsereignis (Bsp. Gorleben)."
Die Landesregierung schließt sich dieser Bewertung an. Sie sieht vor allem bei Demonstrationen mit stark emotionalisierendem Charakter zunehmende Gefahren durch gewaltbereite Linksextremisten auf das Land Niedersachsen zukommen.
So beobachten die Sicherheitsbehörden seit geraumer Zeit zunehmende Wechselwirkungen zwischen gewaltbereiten Linksextremisten und der rechtsextremen Szene. Diese dienen oftmals sowohl der offenen gewaltsamen Konfrontation untereinander als auch gegenüber der Polizei. Als Beispiel sei hier die 1.Mai-Demonstration 2008 in Hamburg erwähnt. Dort hätte die Konfrontation nach Aussage der polizeilichen Einsatzleitung ohne das Eingreifen der Polizei zu Toten führen können. In diesem Zusammenhang stellen Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz in dem o. a. Schreiben fest:
"Bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner von Rechts zeigt sich seit Jahren, dass diese Konflikte durchweg unter Anwendung von Gewalt ausgetragen werden. Neu, und im Jahr 2009 erstmals als besorgniserregendes Phänomen festzustellen, ist der Umstand, dass die diesbezügliche Konfrontationsgewalt von den Angehörigen beider Lager zunehmend enthemmt, offenbar mit dem Ziel nachhaltiger Körperverletzung und unter zumindest billigender Inkaufnah-me des Todes des Kontrahenten ausgeübt wird."
Neben den Konfrontationen zwischen Rechts- und Linksextremisten sieht die Landesregierung insbesondere Gefahren bei Demonstrationen gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie. Vor allem im Verlauf der Castor-Transporte ins Transport-Behälter-Zwischenlager Gorleben ist eine Zunahme linksextremistischer Gewalt zu befürchten.
Darüber hinaus verdeutlichen zahlreiche Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge und Gebäude bundesweit und in Niedersachsen, dass die Gefährdung von Menschen durch gewaltbereite Linksextremisten zumindest billigend in Kauf genommen wird.
Am 4. Dezember 2009 haben linksextreme Gewalttäter eine Polizeiwache in Hamburg überfallen. Hier zeigt sich eine neue Qualität linker Gewalt. Nach einer Bewertung der Bundesanwaltschaft gingen die Täter planmäßig und kaltblütig vor. Sie haben die Polizeibeamten mit vorgetäuschten Hilferufen in einen Hinterhalt gelockt und mit Pflastersteinen angegriffen. Streifenwagen und Container wurden angezündet. Die Bundesanwaltschaft ermittelt in diesem Fall wegen versuchten Mordes.
In einem Strafverfahren wegen versuchten Mordes gegen zwei Jugendliche in Berlin verbreitete im vergangenen Jahr eine autonome Gruppe im Internet Morddrohungen gegen einen Berliner Oberstaatsanwalt. Auch dies ist eine Form der Eskalation, die Schlimmes befürchten lässt.
Auch in Niedersachsen gibt die Entwicklung in jüngster Zeit Anlass zur Besorgnis. Mit dem Brandanschlag auf das Göttinger Landkreisgebäude am 22. Januar 2010 erreichte die Anschlagsserie in Göttingen eine neue Qualität: Ein Mitarbeiter der Kreisverwaltung wurde durch eine Verpuffung im Brandbereich aus dem Raum geschleudert und verletzt. Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und der gefährlichen Körperverletzung ist eingeleitet worden. Jeder Mitarbeiter und Besucher der Kreisverwaltung hätte Opfer der Straftat werden können.
Aufgrund dieser Gewalttaten und der in Niedersachsen und anderen Bundesländern erkennbaren Entwicklung befürchtet die Landesregierung, dass die Hemmschwelle linksextremistischer Täter zur Gewaltanwendung gegen Menschen weiter sinken wird.
Zu 2.:
Der Landesregierung liegen keine umfassenden empirischen Erhebungen über die Ursachen für die zunehmende Gewalt von Linksextremisten vor. Sie teilt aber die gemeinsame Bewertung von Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz vom 22. Dezember 2009, der zufolge
ursächlich für diese Entwicklung sein können.
Linksextremistische Gewalttäter lehnen aus ideologischen Gründen unseren demokratischen Rechtsstaat ab. Sie ordnen die Wahrheit dem eigenen Weltbild unter. In ihrer irrationalen Wahrnehmung der Realität ist kein Platz für rationale Argumente. Der Staat und seine Repräsentanten sind die unverrückbaren Feindbilder, die mit hoher Aggressivität und Gewaltbereitschaft bekämpft werden. In ihrem ideologisch geprägten Kosmos sehen sich Linksextremisten als Opfer vermeintlicher staatlicher Repression.
Sie meinen, ihr Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem als omnipotent empfundenen Staat gebe ihnen das Recht, mit radikalen Mitteln an dessen Grundfesten zu rütteln. Oftmals ist es nur dem beherzten Eingreifen der Polizei zu verdanken, dass Gewalt bzw. eine Eskalation verhindert werden konnte.
Erkenntnisse des niedersächsischen Verfassungsschutzes lassen einen Trend zu verstärkter Gewaltbereitschaft im Linksextremismus erkennen. Dabei fällt auf, dass die Täter bzw. die Mitglieder gewaltbereiter autonomer Gruppierungen jünger werden.
Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass Gewalt auch eine Binnenwirkung für die linksextremistische Szene hat. Mit Gewalt lässt sich die eigene revolutionäre Gesinnung und somit ideologische Überzeugung nicht nur nach außen, sondern auch nach innen kommunizieren. Sie dient als Akt der Selbstbefreiung von angeblich verinnerlichten Herrschaftsstrukturen und der Stärkung des Gruppenzusammenhalts innerhalb der autonomen Szene. Zugleich kann nach ihrem Verständnis mit Gewalt öffentliche bzw. mediale Aufmerksamkeit erzielt und der Versuch unternommen werden, den Preis, den das "System" für bestimmte politische Entscheidungen (Bau von AKW etc.) zu zahlen hat, gezielt hochzutreiben.
Demonstrationen ohne gewalttätige Auseinandersetzungen (sog. Latsch-Demos) stehen dagegen in diesen Kreisen in dem Ruf, langweilig und uninteressant zu sein.
Die Ursachen für die zunehmende Gewaltbereitschaft lassen sich einer Studie der Freien Univer-sität Berlin zu den Krawallen vom 1. Mai 2009 in Berlin zur Folge auch im vorpolitischen Raum finden. Gewalt wird beispielsweise angewendet, um die eigene Abenteuerlust und den eigenen Erlebnisdrang zu befriedigen. Auch Rachegelüste gegenüber einzelnen Polizeibeamten scheinen ein Motiv zu sein. "Die Bullen haben mich in einem Monat sieben Mal angehalten beim Auto fahren, und diese Wut muss irgendwann mal raus", so ein Befragter dieser Studie auf die Frage, warum er auf der 1. Mai-Demonstration Gewalt angewendet habe.
Zu 3.:
Linksextremisten definieren sich über ihren politisch militanten Aktionismus. Ihre Straftaten richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und treten z. B. als militanter Antifaschismus, Antirassismus oder Antimilitarismus in Erscheinung.
Insbesondere Taten mit Bezügen zu Anarchismus oder Kommunismus (einschließlich Marxismus) sind zu den linksextremistischen Straftaten zurechnen, wenn sie ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren.
In Niedersachsen wurden im Jahr 2009 nach derzeitiger Auswertung 823 (2008: 715) linksextremistische Straftaten erfasst. Dies entspricht einer Steigerung um ca. 15%. Die Anzahl linksextremistischer Gewaltdelikte wie beispielsweise Körperverletzungen oder Brandstiftungen hat sich von 137 (2008) auf 161 um ca. 18% erhöht. Besondere Bedeutung erlangt diese Steigerung auch vor dem Hintergrund, dass im Jahr 2009 kein Castortransport stattfand.
Innerhalb der linksextremistischen Gewaltdelikte ist es insbesondere bei Brandstiftungen und schweren Brandstiftungen im Vergleich zum Vorjahr zu einer Verdoppelung gekommen (2008 gesamt: 10; 2009: 20). In 75% der Brandstiftungsdelikte waren Kraftfahrzeuge das Angriffsziel. Regionale Schwerpunkte dabei waren Hannover, Lüneburg und Göttingen. Brandstiftung ist ein Verbrechenstatbestand!
Die Landesregierung hält es dringend für erforderlich, dass sich alle demokratischen Parteien und die Zivilgesellschaft unmissverständlich von jeglicher Form von Gewalt distanzieren.
Das gilt nicht nur für Brandanschläge und andere besonders schwere und lebensgefährliche Straftaten, sondern auch für sonstige Gewalttaten, die bei Demonstrationen immer häufiger verübt werden.
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erstellt am:
19.02.2010
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010