Islamische Gemeinschaft Milli Görüs
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 16.12.2009; Fragestunde Nr. 43
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Filiz Polat und Helge Limburg (GRÜNE) ; Es gilt das gesprochene Wort!
Die Abgeordneten hatten gefragt:
Die Stadt Laatzen hat der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) die Genehmigung für ein Gemeindehaus an der Hildesheimer Straße erteilt. Im Vorfeld wurde das Thema in Presse und Öffentlichkeit diskutiert. In den HAZ-Leinenachrichten vom 28. Oktober 2009 wurde der Laatzener CDU-Landtagsabgeordnete und CDU-Stadtverbandschef Christoph Dreyer hinsichtlich seiner Position zu Milli Görüs mit den Worten zitiert: "Wir wollen in Laatzen keine Extremisten haben. Ich wünsche mir, dass wir uns von Extremismus in jeglicher Form abgrenzen und ein waches Auge auf Milli Görüs in Laatzen haben." Milli Görüs ist Mitglied der Schura Niedersachsen, die als Landesverband der Muslime einen Großteil der islamischen Vereine in Niedersachsen vertritt. Als solche ist sie auch Mitglied des runden Tisches zum islamischen Religionsunterricht, den die Landesregierung zwecks Begleitung dieses in Niedersachsen gewichtigen Modellprojekts eingerichtet hat.
Wir fragen die Landesregierung:
- Teilt die Landesregierung die Auffassung von Herrn Dreyer, dass es sich bei Milli Görüs um Extremisten handelt?
- Wie ist es miteinander vereinbar, dass Herr Dreyer als CDU-Abgeordneter einerseits eine solche Auffassung vertritt und andererseits die Landesregierung mit Milli Görüs als Mitglied der Schura im Rahmen des runden Tisches zum islamischen Religionsunterricht zusammenarbeitet?
- Welche Schritte hält die Landesregierung für erforderlich, um die durch die Äußerungen von Herrn Dreyer als Mitglied einer die Landesregierung tragenden Fraktion entstandene Schieflage im Verhältnis zu Milli Görüs wieder auszugleichen?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:
Die Verfassungsschutzbehörden beobachten gemäß § 3 des Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes politisch bestimmte Aktivitäten unter anderem dann, wenn diese sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wenden, zum Beispiel eine islamistische Ordnung für Staat und Gesellschaft durchsetzen wollen.
Die 1985 in Köln als "Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V." gegründete "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) ist mit ca. 27.500 Mitgliedern die größte islamistische Organisation in Deutschland. In Niedersachsen sind cirka 2.600 Personen dieser Organisation zuzurechnen.
Die ideologischen Wurzeln der IGMG sind auf die Ideen des türkischen Politikers Necmettin ERBAKAN zur "Milli Görüs"-Bewegung zurückzuführen, die er Ende der 1960er Jahre begründete. Zentrale Bedeutung in ERBAKANS politischem Denken haben die von ihm geprägten Schlüsselbegriffe "milli görüs" ("nationale Sicht") und "adil düzen" ("gerechte Ordnung"). Nach seinem Geschichtsverständnis beruhen Zivilisationen entweder auf grundsätzlich "gerechten" oder auf "nichtigen" Voraussetzungen. Danach fußt die "gerechte Ordnung" auf göttlicher Offenbarung und Wahrheit. Mit der westlichen Zivilisation dominiere eine "nichtige" Ordnung, die nach ERBAKAN auf Gewalt, Unrecht und Ausbeutung der Schwachen basiert. Es gelte, ein solches System durch eine "gerechte" Ordnung zu ersetzen, wofür die Ausrichtung an islamischen Grundsätzen statt an von Menschen geschaffenen und damit angeblich willkürlichen Regeln erforderlich sei. Eines der zentralen Ziele ERBAKANS ist die Errichtung einer islamischen Gesellschaftsordnung seines Verständnisses. Diese Sichtweise bedingt die Ablehnung westlicher Demokratien.
Es liegen daneben zahlreiche tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die IGMG und die anderen Komponenten der "Milli Görüs"-Bewegung, wie zum Beispiel die formal eigenständige, aber der "Milli Görüs"-Bewegung ebenfalls verbundene Zeitung "Milli Gazete", verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen. Innerhalb der Bewegung gibt es durchaus Bemühungen, sich für die Ausweitung und uneingeschränkten Geltung der Scharia einzusetzen. Das vermittelte Verständnis von der Rolle der Frau ist streng am islamischen Recht ausgerichtet und enthält Anhaltspunkte für Ungleichbehandlungen, die mit dem verfassungsrechtlich geschützten Grundsatz der Gleichberechtigung kollidieren. Dieses in Anspruch genommene, fundamentale Islamverständnis ist nicht vom Grundrecht der Religionsfreiheit gedeckt. Die Ablehnung demokratisch legitimierter Rechtsordnungen steht im Widerspruch zum Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip.
Die "Milli Görüs"-Bewegung akzeptiert nur eine islamisch ausgerichtete Gesellschaftsordnung, die ihren politischen und religiös motivierten Vorstellungen entspricht. Sie ist damit nicht mehr nur als eine religiös ausgerichtete Gemeinschaft anzusehen, die sich ausschließlich mit Glaubensfragen beschäftigt, sondern eine politisch ausgerichtete Bewegung, die sich einen weltweiten gesellschaftlichen Umbruch zum Ziel gesetzt hat.
Belege für diese Aussagen finden sich sowohl im aktuellen Verfassungsschutzbericht des Bundes als auch im niedersächsischen Verfassungsschutzbericht.
Ein Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz zur Verfassungsfeindlichkeit der IGMG vom 30.März 2009 stellt bereits einleitend zutreffend fest, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Mitglieder bzw. Anhänger der IGMG islamistische und damit extremistische Ziele verfolgen oder unterstützen. Ferner wird ausgeführt, dass zwar erste Ansätze für demokratische Tendenzen in der IGMG vorhanden sind. Gleichwohl kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass angesichts der vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte für Bestrebungen der IGMG, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, der Verfassungsschutz aufgrund seines gesetzlichen Auftrages berechtigt und verpflichtet ist, die Vereinigung zu beobachten.
Tendenziell liegt das Gutachten mit der Bewertung der Verfassungsfeindlichkeit der IGMG auf der Linie der dort ebenfalls zitierten Rechtsprechung. So übernahm z.B. das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 11. November 2004 in einem luftverkehrsrechtlichen Verfahren die Auffassung, dass es sich bei der IGMG um eine verfassungsfeindliche Vereinigung handele.
Dies vorangeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Wie bereits in der Vorbemerkung dargestellt, geht die Landesregierung nicht davon aus, dass alle Mitglieder bzw. Anhänger der IGMG islamistische und damit extremistische Ziele verfolgen oder unterstützen. Dennoch ist die Ideologie der Organisation aus den ebenfalls dort dargestellten Gründen als verfassungsfeindlich zu bewerten.
Zu 2. und 3.:
Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, auch muslimischen Glaubens, ist ein besonderes Anliegen der niedersächsischen Landesregierung. Die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Partnern und auf verschiedenen Ebenen ist unabdingbar. Hierbei sind jeweils die konkreten Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen.
Artikel-Informationen
erstellt am:
16.12.2009
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010