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20 Jahre Mauerfall

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 26.11.2009; TOP 33


Rede von Innenminister Uwe Schünemann zum Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP; es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und damit das Symbol für kommunistische Unterdrückung im 20. Jahrhundert. Vorausgegangen waren bewegte Wochen und Monate, in denen immer mehr Bürgerinnen und Bürger in der DDR den Mut fanden, sich gegen die SED-Diktatur aufzulehnen. Diese Zeit war geprägt von der Massenflucht und der Bildung oppositioneller Gruppen über die Großdemonstrationen bis zur Öffnung der Grenzen und dem Ende der SED-Willkürherrschaft.

In unzähligen Städten und Gemeinden gingen im Herbst 1989 die Menschen auf die Straßen, um für ihre Freiheit zu demonstrieren. Oppositionelle Gruppen wurden gebildet, die Runden Tische formierten sich.

"Wir sind das Volk" wurde zum Motto der Proteste gegen die DDR-Führung. Der Aufstand gewann zusehends an Eigendynamik. Dem Massenprotest konnte die SED schließlich nichts mehr entgegensetzen. Dem Fall der Mauer am 9. November folgte der Sturz des Regimes.

All dies geschah ohne Gewalt – auch gerade deshalb ist das Erinnern an diese Ereignisse von fundamentaler Bedeutung. Der Zusammenbruch dieser Diktatur auf deutschem Boden geschah ohne Blutvergießen. Wir erlebten eine friedliche Revolution. Dies ist in der deutschen Geschichte einmalig!

Für uns Deutsche ist dieses Ereignis ein Grund zur Freude und Dankbarkeit. Mit ihrem Mut hat die Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR die Mauer zum Einsturz gebracht. Es gehörte großer Mut, ja Tapferkeit dazu, den Machthabern in Ost-Berlin die Stirn zu bieten. Die friedliche Revolution hat entscheidend den Weg für die Deutsche Einheit gebahnt.

Aber an erster Stelle stand vor 20 Jahren der Wunsch vieler ostdeutscher Landsleute nach Freiheit. Sie wollten nicht länger entmündigt sein. Keiner will die Lebensbiografien der Menschen in der DDR, ihre persönlichen Leistungen schmälern. Es geht auch nicht darum, die DDR zu dämonisieren. Aber dieses System war keine "Wohlfühldiktatur". Permanente Bespitzelung und Terrorisierung Andersdenkender, die Militarisierung einer ganzen Gesellschaft, Wahlfälschungen und die Todesschüsse an der Mauer – das waren keine Entgleisungen, sondern tragende Säulen des SED-Regimes. Wer diese historischen Tatsachen heute noch in Abrede stellt oder klein redet, verhöhnt die Opfer von Diktatur und Gewalt. Das dürfen wir nicht zulassen!

Meine Damen und Herren,

  • mindestens 136 Menschen fielen den Schüssen an der Berliner Mauer zum Opfer.
  • Etwa 1.000 Flüchtlinge starben an der innerdeutschen Grenze.
  • Mehr als 200.000 politische Gefangene waren während der SED-Herrschaft inhaftiert.
  • Bis zu 100.000 Menschen wurden in Zusammenhang mit Fluchtversuchen verhaftet.
  • Und unzählige Menschen wurden zudem Opfer staatlicher "Zersetzungsmaßnahmen", wie es im Jargon der Stasi hieß.

Ihr Ruf wurde auf Anweisung des MfS systematisch ruiniert, beruflicher und privater Misserfolg organisiert.

Zu einem ganz überwiegenden Teil handelte es sich dabei um Menschen, die nichts anderes taten, als ihre Menschen- und Bürgerrechte wahrzunehmen, die sich nach Freiheit sehnten, die die staatliche Gängelei nicht länger ertragen konnten und wollten, die Lügen und Missstände offen ansprachen, oder die einfach nur einer "falschen" Gruppe angehörten.

Wer "Staatsfeind" war, bestimmte allein die SED und ihre Staatssicherheit. Demokratische Rechte gab es nur auf dem Papier, demokratische Kontrolle nur in der Theorie. In der Praxis gab es weder Meinungs- und Pressefreiheit, noch eine unabhängige Justiz oder einen wirksamen Rechtsschutz.

Erst 1971 wurde die Gewaltanwendung gegen Häftlinge im DDR-Strafvollzug offiziell untersagt.

Erst 1987 wurde die Todesstrafe, die zuvor 164 Mal per Guillotine oder "Nahschuss" vollstreckt worden war, abgeschafft.

Insbesondere die Untersuchungshaft in den Gefängnissen der Stasi blieb für politisch Verfolgte bis zum Ende der DDR voller Schikanen wie Einzelhaft, Verhöre zur Nachtzeit, systematischer Schlafentzug, Isolierung und Informationssperren.

Auch nach der Haft wurden politische Häftlinge diskriminiert. Viele von ihnen mussten weiterhin Nachteile, z. B. ein Berufsverbot, hinnehmen. Manchen von ihnen waren zwischenzeitlich ihre Kinder weggenommen und zur Zwangsadoption freigegeben worden.

Zu den Folgen der Haft gehören bei vielen Opfern – bis heute – Ängste und Depressionen, körperliche Erkrankungen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen.

Deshalb ist es auch so wichtig, die politischen Opfer des SED-Regimes zu rehabilitieren und ihnen ein Minimum an Unterstützung zu ermöglichen.

Dafür hat sich diese Landesregierung kontinuierlich eingesetzt.

Ich kann jedoch nicht nachvollziehen, dass Sie, meine Damen und Herren von der Partei DIE LINKE, die DDR auch 20 Jahre nach dem Mauerfall noch als "international anerkannten Staat auf deutschem Boden" bezeichnen können "auf den viele Menschen Hoffnungen gesetzt haben."

Diese Sicht geht am Kern der SED-Diktatur vollkommen vorbei!

Mit Sorge beobachten wir, dass sich 20 Jahre nach dem Fall der Mauer eine zunehmende Unwissenheit über die zweite Diktatur auf deutschem Boden und ihre Folgen breit macht. Erhebungen zum Schülerwissen über die SED-Diktatur offenbaren unglaubliche Defizite.

Da wird Honecker plötzlich zum ersten Bundeskanzler, die Bundesrepublik zum Erbauer der Mauer und die DDR zum demokratischen Rechtsstaat. Viele glauben sogar in der Rückschau, die DDR sei der sozialere und freiheitlichere deutsche Staat gewesen.

Wir sind es den Opfern schuldig, uns heute und künftig dem Vergessen, Verdrängen und Verklären der SED-Diktatur zu widersetzen.

Wer die historischen Tatsachen heute in Abrede stellt oder klein redet, wer wie der Fraktionsvorsitzende der niedersächsischen Linken von der friedlichen Revolution als der "Niederlage von 1989" spricht, wer "Wladimir" – das ist Lenin - und "Walter" – gemeint ist Ulbricht - als Lichtgestalten des Sozialismus preist, wessen Ziel noch immer der Kommunismus ist, der stellt sich außerhalb des demokratischen Konsens, der verhöhnt die Opfer von Diktatur und Gewalt.

Das dürfen wir nicht zulassen!

Unser Grundgesetz feiert in diesem Jahr sein 60jähriges Bestehen. Prägend für das Grundgesetz ist sein antitotalitärer Konsens, die Ausrichtung als wehrhafte Demokratie. Unser Staat ist gehalten, sich frühzeitig gegen extremistische Bestrebungen jeglicher Ausrichtung zu wehren – ob es sich dabei nun um rechts oder links motivierten Extremismus handelt.

Wir haben die Pflicht, vor allem Jugendliche verstärkt über die historischen Zusammenhänge und ihre aktuellen Fortwirkungen aufzuklären. Deshalb wollen wir künftig die Schulen für eine verstärkte Beschäftigung mit der SED-Diktatur gewinnen. Lehrer sollen nicht nur für die Gefahren des Rechts-, sondern auch des Linksextremismus sensibilisiert werden.

Schüler möchten wir durch Jugendkongresse, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen über die jüngste deutsche Geschichte und die Bedrohungen, denen unsere Demokratie ausgesetzt ist, umfassend informieren.

Aus diesem Grund haben wir auch die Ausstellung des niedersächsischen Verfassungsschutzes gegen Rechtsextremismus um den Bereich Linksextremismus erweitert.

Zu einer umfassenden Präventionsarbeit gehört aber auch der Besuch authentischer Orte. Niedersachsen hatte die längste gemeinsame Grenze aller westdeutschen Bundesländer mit der DDR. Zahlreiche Grenzlandmuseen, insbesondere aber die Gedenkstätte Marienborn als früherer Grenzübergang, klären eindrucksvoll darüber auf, was Ausreise, Flucht und Schießbefehl an der deutschdeutschen Grenze für den Einzelnen bedeuteten. An authentischen Orten wie diesen können Schüler und junge Menschen hautnah erfahren, was es bedeutet, Opfer einer willkürlichen Staatsmacht zu sein. Was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben.

20 Jahre nach der friedlichen Revolution sind wir es den Opfern von Diktatur und Unrecht schuldig, die Erinnerung an das Leid aufrecht zu erhalten und unermüdlich für unseren demokratischen Rechtsstaat einzustehen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Presseinformationen Bildrechte: Land Niedersachsen

Artikel-Informationen

erstellt am:
01.12.2009
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010

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