Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.06.2009; Fragestunde
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jörg Bode und Jan-Christoph Oetjen (FDP); Es gilt das gesprochene Wort!
Die Abgeordneten hatten gefragt:
Die Gewaltbereitschaft gegenüber Polizeibeamtinnen und -beamten ist in den letzten Jahren sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihrer Intensität gestiegen. Polizeibeamtinnen und -beamte erfahren immer häufiger körperliche und physische Verletzungen im Dienst. Es handelt sich hier um ein Phänomen, welches bundesweit zu beobachten ist.
Dieses wird auch durch die Polizeiliche Kriminalstatistik Niedersachsen 2008 des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration belegt. Hiernach hat die Zahl der Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamtinnen und -beamte in dem letzten Jahr einen neuen Höchststand erreicht.
Um diese Entwicklung hinreichend beurteilen zu können, ist es notwendig, genaue Informationen über die Anzahl und Formen dieser Widerstands-handlungen gegen Polizeibeamtinnen und -beamte zu erhalten.
Zudem muss geklärt werden, wie mit diesem Phänomen der steigenden Gewalt umgegangen wird und welche Maßnahmen ergriffen werden, um die Polizeibeamtinnen und -beamte zu schützen.
Wir fragen die Landesregierung:
- Wie hat sich die Zahl der gegen Polizeibeamtinnen und -beamte verwirklichten Straftatbestände, aufgegliedert nach den einzelnen Delikten, in den letzten Jahren entwickelt?
- Ergreift die Landesregierung Maßnahmen, um die Ursachen des Phänomens der ansteigenden Widerstandshandlungen gegen Poli-zeibeamtinnen und -beamte zu analysieren, und wie sehen diese aus?
- In welcher Art und Weise werden Polizeibeamtinnen und -beamte vor gewalttätigen Übergriffen geschützt und im Umgang mit solchen Situationen geschult?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit Jahren sind kontinuierlich steigende Fallzahlen bei Übergriffen gegen Vollstreckungsbeamte unseres Landes, aber auch bundesweit festzustellen. Die Anzahl der Fälle von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist in Niedersachsen seit dem Jahr 2001 um etwa 60 Prozent gestiegen. Im Jahr 2008 wurden beinahe 2.500 Fälle in der Polizeilichen Kriminalstatistik (kurz: PKS) erfasst.
Die niedersächsische Landesregierung nimmt die Entwicklung dieses Phänomens, mit großer Aufmerksamkeit und zunehmender Sorge wahr!
Wir sind der Überzeugung, dass es unsere Aufgabe ist,
- dieses Kriminalitätsphänomen fortwährend zu analysieren,
- aus den Erkenntnissen wirkungsvolle Strategien zu entwickeln
- und zugleich Initiativen zu ergreifen, um den Schutz unserer Polizeibeamtinnen und -beamten zu verbessern.
Hierzu hat die niedersächsische Polizei bereits in den vergangenen Jahren ständig ihre taktischen Vorgehensweisen überprüft und insbesondere Fortbildungsangebote angepasst – darauf gehe ich später noch genauer ein.
Dies vorangeschickt, beantworte ich die Mündliche Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Für die Darstellung von Straftaten gegenüber Polizeibeamtinnen und -beamten liegt als Datenquelle die PKS vor. Eine automatisierte Auswertung der gesamten Fälle, in denen Polizeibeamtinnen und –beamte Opfer von Straftaten geworden sind, lässt sich über die PKS aktuell nicht realisieren. Der AK II der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder hat am 15.09.2008 beschlossen, dass in der PKS zusätzliche Merkmale zum Geschädigten erfasst werden. Die fachlich relevante und spezifische Rolle des Geschädigten wird seit Jahresbeginn 2009 abgebildet. Damit wird die Aussagekraft und Auswertbarkeit der PKS diesbezüglich entscheidend verbessert. Es besteht jetzt eine Auswertemöglichkeit für die Fälle, in denen Polizeibeamtinnen und -beamte "Opfer" einer Straftat sind. Das sind ausschließlich solche Fälle, die sich gegen höchstpersönliche Rechtsgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehre und die sexuelle Selbstbestimmung richten. Künftig kann damit beantwortet werden, in welcher Anzahl von Fällen Polizeibeamtinnen und -beamten z. B. Opfer einer Körperverletzung geworden sind.
Als eine Kenngröße für das Ausmaß der Straftaten gegen Polizeibeamtinnen und -beamte kann der in der PKS abgebildete Tatbestand des § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) herangezogen werden. Aufgrund der bundesweit geltenden Erfassungskriterien für die PKS ergeben sich allerdings Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft zur Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte.
Unter diesem PKS-Schlüssel werden auch Taten erfasst, die keine Gewalttaten gegen Polizeibeamtinnen und -beamte darstellen, wie z. B.
- Gewaltausübung gegen andere hoheitlich handelnde Personen mit Amtsträgereigenschaft;
- Widerstandshandlungen ohne Zufügens eines körperlichen Schadens;
- im Einzelfall Drohung mit Gewalt oder bloßes passives Verhalten.
In diesem Schlüssel fehlen darüber hinaus bestimmte Fallkonstellationen, die an anderen Stellen in die PKS einfließen. Bei Vorliegen mehrerer Straftaten innerhalb eines Lebenssachverhalts wird in der PKS lediglich die schwerwiegendste Straftat gezählt. Das hat zur Folge, dass Widerstandshandlungen ggf. im Kontext anderer, parallel begangener schwerwiegenderer Straftaten (z. B. Versuchter Totschlag, Gefährliche oder Schwere Körperverletzung) registriert werden. Vor diesem Hintergrund sind die in der PKS ausgewiesenen Zahlen zu relativieren und differenziert zu betrachten.
Im Einzelnen ergibt sich folgende Entwicklung dieser Straftaten in Niedersachsen:
2001 = 1.556 Straftaten
2002 = 1.771 Straftaten
2003 = 1.840 Straftaten
2004 = 1.884 Straftaten
2005 = 2.197 Straftaten
2006 = 2.318 Straftaten
2007 = 2.416 Straftaten
2008 = 2.499 Straftaten.
Zu 2.:
Bereits während der Vorstellung der PKS 2008 im März 2009 habe ich darauf hingewiesen, dass wir gemeinsam mit dem Landeskriminalamt und dem Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) eine Untersuchung durchführen werden, um neben der quantitativen Entwicklung der Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und –beamte gerade auch Aussagen zur qualitativen Veränderung der Gewaltausübung zu erhalten.
Untersucht werden durch eine Befragung zum einen solche Fälle, in denen die niedersächsischen Polizeibeamtinnen und -beamten als unmittelbare Folge der Gewaltausübung dienstunfähig gewesen sind. Die Ergebnisse lassen sich mit der früheren Studie "Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und –beamte 1995–2000 – eine kriminologische Analyse" des KFN ergänzen
Darüber hinaus kommt es allerdings in vielen Fällen auch zur Gewaltausübung gegen Polizeibeamtinnen und -beamten, die keine Dienstunfähigkeit zur Folge haben. In einer zweiten Teilstudie werden durch eine ergänzende Befragung auch solche Fälle in die Untersuchung einbezogen. Mit einer dritten Teilstudie erfolgt eine Datenanalyse der angezeigten Widerstandshandlungen und Rohheitsdelikte zum Nachteil der Polizeibeamtinnen und -beamten.
Erste Zwischenergebnisse werden noch in diesem Jahr vorliegen.
Die Innenministerkonferenz hat sich auf ihrer letzten Sitzung ebenfalls mit dem Thema befasst und den Arbeitskreis II der IMK gebeten, ein bundesweites Lagebild zu erstellen und Umsetzungsvorschläge vorzulegen. Hierbei sollen auch die Ergebnisse der niedersächsischen Studie Berücksichtigung finden.
Zu 3.:
Der Vermeidung bzw. Reduzierung von Gewalt und der Verhinderung vermeidbarer Gefährdungen von Polizeibeamtinnen und –beamten wird im Bereich der Aus- und Fortbildung eine besondere Bedeutung beigemessen.
Ein wesentlicher Meilenstein wurde in der Ausbildung mit der Einführung des akkreditierten Bachelorstudiengangs erreicht. Während des Bachelorstudiums an der Polizeiakademie Nieder-sachsen werden grundlegende Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse für die Verwendung in der Sachbearbeitung des Einsatz- und Streifendienstes und des Kriminalpolizeilichen Ermittlungsdienstes vermittelt. Die hierfür erforderlichen Trainings wurden insbesondere unter dem Aspekt der Eigensicherung inhaltlich überarbeitet, aufeinander abgestimmt und an die Herausforderungen des Polizeidienstes angepasst. Der Anteil, in dem die zukünftigen Polizeibeamtinnen und –beamten durch praktische Trainings vorbereitet werden, nimmt unter Einbeziehung der beiden Praktika fast die Hälfte des Kontaktstudiums ein.
Nach der Ausbildung greift das Fortbildungskonzept "Systemisches Einsatztraining (kurz: SET)", das aktuell in ein neues Polizeitrainerkonzept einbezogen worden ist. Hier werden sowohl die Bewältigung von Routineeinsätzen als auch von besonderen Einsatzlagen trainiert, wobei auch die dienststellenspezifischen Besonderheiten berücksichtigt werden.
Im Mittelpunkt des SET steht die Lagebewältigung zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrages bei gleichzeitiger Vermeidung bzw. Reduzierung von Gewalt und Zwangsanwendung, die Verhinderung vermeidbarer Gefährdungen von Polizeibeamtinnen und -beamten und anderer Personen sowie die Steigerung der Akzeptanz polizeilichen Einschreitens. In fächerübergreifender Vorgehensweise werden Fähigkeiten in den Trainingsfeldern Stressbewältigung, Kommunikation, Taktik und Eigensicherung, Eingriffstechnik, Nichtschießen/Schießen und Eingriffsrecht vermittelt.
Das SET wird den im Außendienst befindlichen Beamtinnen und Beamten landesweit angeboten. Diese Gruppe umfasst ca. 14.000 Beschäftigte, von denen die ca. 8.000 Beamte im Einsatz- und Streifendienst und in den Polizeistationen die größte Priorität genießen. Darüber hinaus wird das SET für Angehörige des Kriminalermittlungsdienstes, der Zentralen Kriminaldienste und der Bereitschaftspolizei durchgeführt.
Die einzelnen Trainingseinheiten der mehrtägigen Veranstaltungen setzen sich aus Basis- und Ergänzungsbausteinen zusammen. Für ein Basistraining ist ein Zeitansatz von vier Tagen vorgesehen. An den Trainings sollten die Beamtinnen und Beamten der Zielgruppe einmal in zwei Jahren teilnehmen. Auf das Land verteilt wird das Training an 17 verschiedenen Standorten angeboten.
2006 wurden rd. 400 Seminare veranstaltet, 2007 rd. 500 Seminare und 2008 rd. 460 Seminare.
Neben dem SET sind das Schusswaffeneinsatztraining, das Abwehr- und Zugriffstraining sowie das einsatzbezogene Fahrtraining die wichtigsten Säulen des Polizeitrainings für die Zielgruppe "Außendienst". Ziel dieser Trainings ist es, durch Vermittlung von Handlungskompetenz ein größtmögliches Maß an Sicherheit für alle Beteiligten bei polizeilichen Einsätzen zu gewährleisten. Die Trainings bauen aufeinander auf, so dass beginnend bei den "handwerklichen" Fertigkeiten bis zu den komplexen Verhaltenstrainings das taktisch richtige und rechtlich zulässige Einsatzverhalten vertieft und gefestigt wird.
Aufgrund der Zunahme bestimmter Deliktsfälle gegen Polizeibeamtinnen und -beamte hat die niedersächsische Polizei in den vergangenen Jahren ständig ihre taktischen Vorgehensweisen überprüft, ggf. fortentwickelt und insbesondere Fortbildungsangebote angepasst. So wurden etwa der Angriff mit Messern, Amoklagen und der Umgang mit psychisch Kranken in das SET integriert. Im neuen Polizeitrainerkonzept sind die verschiedenen Trainingsfelder aufeinander abstimmt und noch enger miteinander verzahnt worden. Auf der Grundlage des landesweit gültigen Standards des Konzeptes werden die haupt- und nebenamtlichen Polizeitrainerinnen und -trainer für ihre Arbeit in den Polizeibehörden durch die Polizeiakademie Niedersachsen qualifiziert.
Die Eigensicherung und der Schutz vor gewalttätigen Angriffen haben nicht nur im Polizeitraining, sondern auch in der Ausstattung unserer Polizei einen hohen Stellenwert.
Eine wesentliche Komponente des modernen passiven Schutzes für Polizeibeamtinnen und -beamte stellt die ballistische Schutzweste dar. Sie schützt nicht nur gegen Beschuss, sondern bei körperlichen Angriffen auch gegen Schlag und Messerangriff. Das Ausstattungskonzept sieht für die Polizei Niedersachsen eine persönliche Ausstattung sowie eine fahrzeug-, funktions- und dienststellenbezogene Ausstattung mit ballistischen Schutzwesten vor. Die persönliche Ausstat-tung umfasst alle Beamtinnen und -beamte im Außendienst, sowie die Anwärterinnen und Anwärter der Polizeiakademie. Der Einsatz- und Streifendienst ist ca. 18.000 ballistischen Unterziehschutzwesten ausgestattet.
Weiterhin sieht das Ausstattungskonzept vor, bei allen Dienststellen mit "rund um die Uhr-Dienst" für besondere Einsatzfälle vier Überziehschutzwesten im Pool vorzuhalten. Das vorstehende Ausstattungskonzept stellt sicher, dass jede Polizeibeamtin bzw. jeder -beamte im Außendienst Zugriff auf eine entsprechende Weste hat.
Trotz der optimierten Aus- und Fortbildung sowie der verbesserten Ausrüstung und Ausstattung, die der Sicherheit der Polizeibeamtinnen und -beamten dienen, kam und kommt es zu persönlich erlittener Gewalt von Polizeibeamtinnen und -beamten im Dienst.
Durch psychische und physische Angriffe geraten Polizeibeamtinnen und -beamte in Situationen, die nicht zu unterschätzende mentale und körperliche Belastungen darstellen.
Dabei ist es von herausragender Bedeutung, die Beamtinnen und Beamten mit ihren Erlebnissen nicht allein zu lassen. Die Sorge um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist eine der wichtigsten Aufgaben der Vorgesetzten. Sie sind insbesondere nach schwierigen Einsatzsituationen in der Pflicht, wachsam und sensibel auf die Belastungen der betroffenen Kollegen einzugehen. Ist die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter Opfer einer Gewalttat im Dienst geworden, ist es notwendig, dass der Vorgesetzte gemeinsam mit der oder dem Betroffenen darüber entscheidet, ob es neben der medizinischen Versorgung von körperlichen Verletzungen weiterer professioneller Unterstützung oder Hilfe zur Verarbeitung des Erlebten bedarf. Eine erzwungene oder festgelegte Form der Hilfe ist nicht sinnvoll, da es auf die Freiwilligkeit des Einzelnen ankommt.
In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf die erfolgreiche Arbeit der Regionalen Beratungsstellen, die wir in allen Behörden betreiben. In Bezug auf die Fürsorge für Polizeibeamtinnen und -beamte sind diese ein wichtiges und ortsnahes Instrument zur Hilfeleistung.
Artikel-Informationen
erstellt am:
18.06.2009
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010