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Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 10.12.2008; TOP 12a


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Dringliche Anfrage der Fraktion DIE LINKE; Es gilt das gesprochene Wort!

Die Fraktion hatte gefragt:

Einsätze der Polizei sollen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfolgen, das heißt, sie sollen geeignet, erforderlich und vor allem angemessen sein.

Die Missachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und weitere Rechtsverstöße seitens der polizeilichen Einsatzkräfte bei der Durchführung von Atommülltransporten in das Transportbehälterlager Gorleben sind von Organisationen, wie dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und der Humanistischen Union vielfach beanstandet und vor Gerichten mindestens ebenso häufig erfolgreich beklagt worden.

Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die zahlreichen Schilderungen von Demonstrationsbeobachtern des Grundrechtekomitees, des RAV sowie kirchlicher Deeskalationsteams. Sie sind nachzulesen in den Berichten des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Lüchow-Dannenberg und in diversen Jahrbüchern des Grundrechtekomitees, z. B. dem Grundrechtereport 2003. Weiterhin gibt es Erfahrungsberichte von Anwältinnen und Anwälten des Ermittlungsausschusses der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg.

Verwiesen sei darüber hinaus auf die Vielzahl der inzwischen vorliegenden rechtskräftigen Gerichtsurteile, die das jeweils streitgegenständliche Vorgehen der Polizei als rechtswidrig rügen, und auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13.12.2005 im Beschwerdeverfahren gegen freiheitsentziehende Maßnahmen - seinerzeit noch nach dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz.

Die vorbeugende Observierung von Atomkraftgegnern, hier insbesondere von Gegnern der Gorlebener Atomanlagen und der Atommülltransporte dorthin, hat eine lange Tradition. Erinnert sei u. a. an die flächendeckende Erfassung von ca. 3 600 Atomgegnerinnen und Atomgegnern in der Datendatei SPUDOK in den 80er Jahren. Nach Auffassung von Beobachtern wurde die Balance zwischen dem öffentlichen Sicherheitsinteresse und Rechtstiteln der privaten Atomwirtschaft auf der einen sowie dem wirksamen Grundrechteschutz auf der anderen Seite häufig zulasten der freiheitlich-demokratischen Bürgerinnen- und Bürgerrechte verschoben.

Der Niedersächsische Landtag befasst sich auch nicht zum ersten Mal mit dieser Problematik. Erinnert sei an die Petition des Grundrechtekomitees vom September 2003.

Am 08.11. dieses Jahres konnte wiederum beobachtet werden, wie Polizisten am Rande der genehmigten Auftaktdemonstration in Gorleben die Autokennzeichen von Kundgebungsteilnehmerinnen und -teilnehmern notierten.

Angefangen bei solchen verdachtsunabhängigen Datenerhebungen über das Abhören von Telefongesprächen und die längerfristige Observierung von Atomkraftgegnern (nach § 33 a bzw. § 34 Nds. SOG) bis zur präventiven Freiheitsentziehung nach §§ 18 bis 21 Nds. SOG machen die Einsatzkräfte im Zusammenhang mit den Atommülltransporten offensichtlich umfassend Gebrauch von verschiedenen Formen der Observierung und der Ingewahrsamnahme.

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:

  1. Werden bzw. wurden aus der wiederholten gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einzelner polizeilicher Maßnahmen seitens der Landesregierung Konsequenzen gezogen? Wenn ja: Welche? Wenn nein: Warum nicht?
  2. Wie oft und wie viele Personen betreffend wurden im Zusammenhang mit den polizeilichen Großeinsätzen bei den Atommülltransporten der Jahre 2005, 2006 und 2008 nach Gorleben Maßnahmen nach den §§ 33 a, 34 und 35 Nds. SOG jeweils angeordnet?
  3. Das Niedersächsische SOG sieht in den §§ 18 bis 21 die Möglichkeit vor, Personen bis zu zehn Tage in polizeilichen Gewahrsam zu nehmen. Wie sind die Vollzugsbedingungen einer Langzeitingewahrsamnahme in Niedersachsen inhaltlich im Einzelnen geregelt?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Dringliche Anfrage wie folgt:

Bei der Bewältigung der Einsätze aufgrund von Castortransporten nach Gorleben befindet sich die Polizei stets in einem Spannungsfeld widerstreitender Interessen. Auf der einen Seite ist die Durchführung der genehmigten Castortransporte und damit die Wahrnehmung der völkerrechtlichen Verpflichtung Deutschlands zur Rücknahme der Abfälle aus der Wiederaufarbeitung im Ausland zu gewährleisten, auf der anderen Seite sind dagegen gerichtete Demonstrationen zu schützen.

So lautete auch beim Polizeieinsatz aus Anlass des diesjährigen Castortransportes eine der Einsatzleitlinien des Gesamteinsatzleiters: "Polizeiliche Einsatzziele sind, die Transportbehälter unter Beachtung von Verhältnismäßigkeit und Kosten sicher an ihren Bestimmungsort zu bringen sowie friedliche und rechtmäßige Protestaktionen zu schützen".

Die Polizei bewältigt diese schwierige Aufgabe seit Jahren in hervorragender Art und Weise.

Ihre Maßnahmen sind dabei stets verantwortungs- und zielbewusst sowie recht- und insbesondere verhältnismäßig.

Diese Feststellung ändern weder subjektiv geprägte Schilderungen einzelner Organisationen, noch im Einzelfall zu beanstandendes polizeiliches Verhalten.

Soweit die Polizei im Rahmen von Castoreinsätzen Datenerhebungen, Observationen, präven-tive Freiheitsentziehungen oder ähnliche Maßnahmen durchgeführt hat, erfolgte dieses unter recht-mäßiger Anwendung der entsprechenden rechtlichen Befugnisse.

So sind beispielsweise die Langzeitgewahrsamnahme der Frau Cecil Lecomte sowie das Notieren der Kennzeichen von Fahrzeugen einzelner Teilnehmer an der Auftaktdemonstration am 8.11.2008 durchgeführt worden, um unmittelbar bevorstehende Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit abzuwehren.

Im Fall der Ingewahrsamnahme Frau Lecomtes ist die Rechtmäßigkeit gerichtlich bestätigt worden. Dieser Fall ist auch am Donnerstag Gegenstand des TOP 19, Mündliche Anfrage Nr. 40.

Die Polizei wertet im Übrigen ständig die einschlägige Rechtsprechung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die polizeiliche Praxis aus. Sofern sich daraus Erkenntnisse von grundsätzlicher und allgemeiner Bedeutung für zukünftige Einsätze ergeben, werden sie zum Beispiel in Form von Handlungsanweisungen den Polizeibeamtinnen und -beamten zugänglich gemacht.

Bei Besprechungen im Vorfeld der Einsätze wird die aktuelle Entwicklung der Rechtsprechung ebenfalls regelmäßig umfangreich bis auf Ebene der Einsatzeinheiten erörtert.

Bei den Castortransporten erhält zudem jede eingesetzte Beamtin / jeder eingesetzte Beamte eine aktuelle Castor-Informationsbroschüre, die u. a. die Einsatzleitlinien und wichtige, insbesondere auch rechtliche, Hinweise enthält.

Den Eindruck, den die Fraktion DIE LINKE mit dieser Anfrage offensichtlich vermitteln will, die Polizei würde im Rahmen der Castoreinsätze absichtlich und gezielt Rechtsverstöße begehen, lasse ich nicht zu und weise die hier vorgebrachten Behauptungen mit Entschiedenheit zurück.

Im Übrigen erschließt sich mir auch nicht die Dringlichkeit dieser Anfrage, soweit sie sich auf lange zurückliegende Polizeieinsätze bezieht.

Die Fraktion DIE LINKE täte besser daran, die unter schweren Umständen geleistete hervorragende Arbeit der Polizei - wie dies alle anderen Parteien des niedersächsischen Landtages in der Vergangenheit getan haben - zu honorieren, anstatt sie permanent zu diskreditieren.

Dies vorangestellt beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Siehe Vorbemerkung.

Zu 2.:

Gemäß § 37a Nds. SOG unterrichtet das Ministerium für Inneres, Sport und Integration den Ausschuss zur Kontrolle besonderer polizeilicher Datenerhebungen über Anlass und Dauer von Datenerhebungen gemäß §§ 33a-c, 34, 35, 36a und 37 Nds. SOG in vertraulicher Sitzung.

Für die Jahre 2005 und 2006 ist diese Unterrichtung erfolgt; für das Jahr 2008 wird sie in der ersten Hälfte des Jahres 2009 erfolgen.

Zu 3.:

Die polizeiliche Ingewahrsamnahme richtet sich nach §§ 18 ff des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Die Freiheitsentziehung bedarf der richterlichen Entscheidung über ihre Zulässigkeit und Dauer.

Die Höchstdauer ist gemäß § 21 Nds. SOG auf maximal 10 Tage in Fällen des sog. Unterbindungsgewahrsams begrenzt. Die Behandlung festgehaltener Personen richtet sich nach § 20 Nds. SOG und ergänzend nach der Polizeigewahrsamsordnung.

Da die meisten Dienststellen nicht über geeignete Zellen für eine längerfristige Unterbringung verfügen, erfolgt in diesen Fällen die räumliche Unterbringung in entsprechend eingerichteten Gewahrsamszellen der Polizeidirektionen Hannover und Braunschweig. Nach § 20 Abs. 5 Nds. SOG kann der Gewahrsam außerdem im Wege der Amtshilfe in einer Justizvollzugsanstalt vollzogen werden.

Hinsichtlich der Vollzugsbedingungen sind hier insbesondere folgende Regelungen der Polizeigewahrsamsordnung zu nennen, die - bis auf die räumliche Unterbringung und die Möglichkeit des Aufenthalts im Freien - nicht hinsichtlich der Dauer der Ingewahrsamnahme differenzieren.

Unterbringung

Die festgehaltene Person soll gesondert, insbesondere ohne ihre Einwilligung nicht in demselben Raum mit Straf- oder Untersuchungsgefangenen, untergebracht werden. Männer und Frauen sollen getrennt untergebracht werden. Der festgehaltenen Person dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Freiheitsentziehung oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.

Ausstattung der Gewahrsamszellen

In den Gewahrsamszellen müssen sicher befestigte Liegen und eine Gegensprechanlage oder Klingel vorhanden sein. Die Zellentüren sollten aus Sicherheitsgründen mit Weitwinkelspionen versehen sein. Die in Gewahrsam genommenen Personen erhalten eine Matratze oder eine Kunststoffauflage und je nach Jahreszeit ein oder zwei Wolldecken.

Matratzen, Kunststoffauflagen und Decken sind nach Gebrauch zu reinigen und mindestens alle sechs Monate zu desinfizieren. Hat eine Person, bei der der Verdacht einer ansteckenden Krankheit besteht, die in Satz 1 genannten Gegenstände benutzt, so sind diese unverzüglich zu desinfizieren. Die Gewahrsamszellen müssen ausreichend temperiert, beleuchtet und belüftet sein.

Behandlung festgehaltener Personen

In Gewahrsam genommene Personen sollen nur von Personen gleichen Geschlechts betreut werden; ist dies nicht möglich, so sind mindestens zwei Bedienstete einzusetzen.

Sachen zum persönlichen Gebrauch oder Verbrauch, die für in Gewahrsam genommene Personen abgegeben oder übersandt werden, dürfen nur nach Durchsicht und im Zweifel nur mit Zustimmung der sachbearbeitenden Dienststelle ausgehändigt werden.

Der in Gewahrsam genommenen Person ist ein Merkblatt über ihre mit der Ingewahrsamnahme verbundenen Rechte auszuhändigen. Das Merkblatt ist in gängigen Sprachen vorzuhalten.

Vernehmungen dürfen nicht in Gewahrsamszellen durchgeführt werden.

Ärztliche Betreuung

Personen, die im Polizeigewahrsam untergebracht werden sollen oder sind, aber offensichtlich verletzt oder krank sind bzw. angeben, krank oder verletzt zu sein, sind in jedem Fall einer Ärztin oder einem Arzt vorzustellen.

Verpflegung

In Gewahrsam genommene Personen sind zu den gängigen Zeiten ausreichend zu verpflegen und mit Trinkwasser zu versorgen, wobei gesundheitliche und religiöse Umstände berücksichtigt werden sollen.

Aufenthalt im Freien

Wenn es die personellen und räumlichen Voraussetzungen zulassen, ist den Personen, die länger als 24 Stunden in Gewahrsam genommen werden, die Möglichkeit zu geben, sich täglich 45 Minuten im Freien aufzuhalten.

Besuche

Personen können Besuch empfangen, soweit dadurch der Zweck oder die Durchführung der Maßnahme nicht gefährdet wird. Besuche bedürfen der Zustimmung der sachbearbeitenden Organisationseinheit. Die Besuchsdauer soll 15 Minuten nicht übersteigen. Besuche sind nur in Gegenwart einer oder eines Bediensteten des Gewahrsamsdienstes oder der sachbearbeitenden Organisationseinheit zulässig.

Die vorgenannten Einschränkungen gelten nicht für Besuche von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, Konsularvertreterinnen und Konsularvertretern oder Geistlichen.

Nachtruhe

Die in Gewahrsam genommenen Personen haben, wenn das Einsatzgeschehen dies zulässt, Anspruch auf ausreichende Nachtruhe. Sie soll um 21.00 Uhr beginnen und um 6.00 Uhr enden.

Zwangsmittel

Die Anwendung von Zwangsmitteln, insbesondere bei Gewalttätigkeiten, Widerstand, Fluchtversuchen, bei Gefahr der Selbsttötung oder, wenn besondere Umstände für eine mögliche Gefangenenbefreiung sprechen, richten sich nach den Vorschriften des Nds. SOG.

Presseinformationen Bildrechte: Land Niedersachsen

Artikel-Informationen

erstellt am:
10.12.2008
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010

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