Polizeiarbeit in der Wesermarsch nach der Polizeireform
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Korter (Grüne); Es gilt das gesprochene Wort!
Die Abgeordnete hatte gefragt:
Mit dem zum 1. November 2004 in Kraft getretenen "Gesetz zur Umorganisation der Polizei und zur Änderung der dienst- und personalrechtlichen Bestimmungen" wurde die Polizeiinspektion Wesermarsch mit Sitz in Brake aufgelöst. Bis zu ihrer Auflösung hat die Polizeiinspektion Wesermarsch sämtliche Delikte eigenständig bearbeitet. Nach In-Kraft-Treten o. g. Gesetzes soll die Aufnahme spezialisierter Delikte durch die Mitarbeiter der Polizeiinspektion Cuxhaven erfolgen, obwohl ausreichend Fachkompetenz vor Ort vorhanden ist. Bis zum Eintreffen ihrer Kolleginnen und Kollegen aus Cuxhaven müssen die Beamtinnen und Beamten meistens relativ untätig am Einsatzort verweilen. Das dürfte vor allem bei Sexualdelikten und Todesursachenermittlungen sowohl bei den Opfern und deren Angehörigen als auch bei den Beamtinnen und Beamten zu schweren psychischen Belastungen führen.
Die Fahrtstrecke zwischen Cuxhaven und Brake beträgt knapp 100 km, die Fahrtzeit dürfte selbst bei ruhiger Verkehrslage in der Regel etwa eineinhalb Stunden betragen.
Ich frage die Landesregierung:
- Welche Aufgaben wurden im Zuge der Auflösung der ehemaligen Polizeiinspektion Wesermarsch nach Cuxhaven verlagert?
- In wie vielen Fällen, die vor In-Kraft-Treten der jüngsten Polizeireform von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ehemaligen Polizeiinspektion Wesermarsch eigenständig bearbeitet worden sind, mussten im Jahr 2005 Beamtinnen und Beamte der Polizeiinspektion aus Cuxhaven anreisen?
- Wie viel Arbeitszeit wurde dadurch insgesamt für Fahrtzeiten zwischen Cuxhaven und den Einsatzorten in der Wesermarsch aufgewendet?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ende 2004 haben wir für die Polizei ein modernes und ganzheitliches Organisationskonzept umgesetzt. Mit Blick auf schlanke und schlagkräftige Strukturen haben wir die Anzahl der Polizeiinspektionen reduziert. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Inspektionen mit der Neustruktur gerade in den spezialisierten Bereichen der Kriminalitätsbekämpfung - und genau um diesen Aspekt geht es im Kern der Anfrage - leistungsfähiger aufgestellt sind.
Die Sicherheitserwartungen der Bürgerinnen und Bürger richten sich in erster Linie darauf, vor Straftaten möglichst umfassend geschützt zu sein. Hierzu bedarf es einer leistungsfähigen Polizei, bürgernah und kompetent. Bürgernah bedeutet dabei weitaus mehr als nur möglichst schnell am Einsatzort zu sein – bürgernah bedeutet dass die Polizei professionelle und quali-fizierte Arbeit erbringt. Und die Entwicklungen in der Kriminalität machen eines besonders deutlich: Wer auf Dauer erfolgreich sein will, kommt in Teilbereichen um eine Spezialisierung nicht umhin. Es wäre aber ein Irrglaube davon auszugehen, dass dies in allen Dienststellen vor Ort nötig oder gar möglich ist. Insofern war die Optimierung der Kriminalitätsbekämpfung ein wesentliches Ziel der Umorganisation. Bewährtes haben wir beibehalten, insbesondere im Hinblick auf die grundsätzlich dezentrale Ausrichtung der Polizeiarbeit. Je spezieller allerdings die Aufgaben sind, umso spezialisierter hat auch ihre Bewältigung zu erfolgen. Das gilt nicht nur für die Polizei - komplizierte medizinische Eingriffe erfolgen in der Regel auch nicht beim Haus-arzt sondern beim Facharzt.
Zur Bekämpfung besonders sozialschädlicher Kriminalitätsbereiche ist es unerlässlich, spezialisiert und konzentriert Kompetenzen und Ressourcen einzusetzen. Hier gilt es, einer zu starken Aufsplitterung und Dezentralisierung entgegen zu wirken. Insbesondere in den spezialisierten Aufgabenbereichen wird daher - übrigens nicht nur in Niedersachsen - mehr Gewicht auf leistungsstarke, gebündelt vorgehaltene Einheiten gesetzt. Dazu benötigt man besonders qualifiziertes Personal mit einschlägiger Erfahrung und Routine. Voraussetzung ist zudem eine ausreichende Falldichte. Daher dürfte es nachvollziehbar sein, wenn solche Tätigkeiten nicht in jeder Basisdienststelle angesiedelt werden können. Schwerwiegende Kriminalität – und das ist nicht die Masse der Delikte, sondern glücklicherweise nur ein eher geringer, dafür aber sehr anspruchsvoller Teil - kann eben nicht durch jede "vor-Ort"-Dienststelle in der notwendigen Qualität bekämpft werden.
Leitlinie der Neuorganisation ist also nicht "Zentralisierung so viel wie möglich", sondern "Konzentration dort, wo nötig". Kriminalitätsbekämpfung ist auch weiterhin Schwerpunktaufgabe der gesamten Polizei. Spezialisierungen und Bündelungen wurden nur dort in Betracht gezogen, wo sich nach fachlicher Prüfung und Bewertung aus Gründen der Spezialität der Aufgabe, des Aufgabenaufkommens, der Arbeitsqualität, der Wirtschaftlichkeit oder aus strukturellen oder situativen Bedingungen ein derartiger Bedarf ergab.
Erfolgreiche Ermittlungsarbeit fängt mit der Aufnahme des Tatortes an. Hier erzielen wir mehr Professionalität durch unsere bei jeder Polizeiinspektion aufgebaute spezialisierte Tatortgruppe. In diesen neuen Gruppen gewährleistet besonders qualifiziertes Personal "rund-um-die-Uhr" die Aufnahme schwerwiegender Delikte und spurenintensiver Tatorte. Erste Erfahrungen zeigen - und darauf werde ich anlässlich der zurzeit durchgeführten Besuche der Polizeiinspektionen im Rahmen der Gespräche vor Ort immer wieder aufmerksam gemacht -, dass mit diesen Teams nicht nur die Qualität der Tatortaufnahme verbessert, sondern auch die übrigen Kollegen in den Streifendiensten entlastet werden.
Lassen Sie mich nun konkreter zur Polizeiarbeit im Bereich Wesermarsch kommen.
Es ist richtig, dass die Polizei im Landkreis Wesermarsch über fachkompetentes Personal für die Sachbearbeitung in der Kriminalitätsbekämpfung verfügt. Qualifizierte Ermittlerinnen und Ermittler werden auch nach der Umorganisation in der Wesermarsch gebraucht und eingesetzt.
Die mit der Umorganisation geänderten Bearbeitungszuständigkeiten führen nicht zwangsläufig dazu, dass Aufgaben der Kriminalitätsbekämpfung verlagert werden. Gerade vor dem Hintergrund örtlicher und struktureller Unterschiede ist in der landesweiten Regelung eine so genannte "Öffnungsklausel" aufgenommen, die aus sachlichen und fachlichen Gründen Abweichungen zulässt. Diese Öffnungsklausel wird richtigerweise auch in der PI Cuxhaven/Wesermarsch angewandt, um so den Gegebenheiten vor Ort Rechnung tragen zu können.
Entsprechend einer von der Polizeidirektion Oldenburg vor kurzem durchgeführten Befragung in Bezug auf die neuen Tatortgruppen hat sich nach Bewertung aller Organisationseinheiten die Einrichtung dieser Teams bewährt. Die Qualität der Spurensicherung und der Vorgangsbearbeitung werden durchweg positiv bewertet, auch von den Angehörigen der Polizeikommissariate. Dies zeigt, dass wir den richtigen Weg beschritten haben.
Es ist nachvollziehbar, wenn ein organisatorischer Zusammenschluss zweier Inspektionen, die vorher voneinander getrennt waren, ja sogar unterschiedlichen Behörden angehört haben, nicht von Heute auf Morgen völlig reibungslos in allen Bereichen der alltäglichen Arbeit funktioniert. Insofern habe ich wiederholt betont, dass es nach der Neustrukturierung einer Startphase bedarf, in der sich gerade in den neu gebildeten Inspektionen die Aufgabenstrukturen einspielen und die Beschäftigten in den neuen Rollen zurecht finden müssen. Die Polizeiinspektion Cuxhaven/Wesermarsch ist hier auf einem guten Weg. Nach Abschluss und Konsolidierung der organisatorischen Veränderungen wird die Umorganisation landesweit einer umfassenden Evaluation unterzogen. Die Behörden werden über ihre Erfahrungen im Jahr 2007 in einer Gesamtschau berichten.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Im Zuge der Zusammenlegung der Polizeiinspektionen wurden in Cuxhaven insbesondere Stabsfunktionen zusammengeführt. Dies betrifft die Sachgebiete Verkehr, Gefahrenabwehr und Umweltschutz, Personal sowie Aus- und Fortbildung. Darüber hinaus wurden die in der Altstruktur vorrangig durch die bisherige Polizeiinspektion (mit Zusatzfunktion) Delmenhorst für die PI Wesermarsch wahrgenommenen Aufgaben im Bereich Technik sowie der Verwaltung und Wirtschaftsangelegenheiten verlagert. Da in Brake noch qualifiziertes Fachpersonal vorhanden ist, werden in einzelnen Aufgabenfeldern, etwa im Verkehrsbereich, den Landkreis Wesermarsch betreffende Belange vorübergehend noch von dort unterstützend wahrgenommen.
Daneben wurden bestimmte Funktionen der operativen Aufgabenwahrnehmung zentral in Cuxhaven angesiedelt. Dies sind das Präventionsteam, die Auswerte- und Analysestelle, die Verfügungseinheit, die spezialisierte Tatortaufnahme, die Fahndung sowie die vor der Reform von der PI Delmenhorst wahrgenommen Bereiche Staatsschutz und Kriminalaktenhaltung. Dabei wird neben dem zentral angesiedelten Präventionsteam örtliche Präventionsarbeit im Landkreis Wesermarsch auch weiterhin durch zurzeit zwei hauptamtliche Sachbearbeiter Prävention wahrgenommen. Dies entspricht genau der Anzahl an Mitarbeitern, die auch vor der Reform dort hauptamtlich Präventionsarbeit geleistet hat. Aufgrund der geografischen Situation des Dienstbezirks sind Teilkräfte der Verfügungseinheit der PI mit Dienstort in Brake untergebracht.
Die Aufgabe der spezialisierten Tatortaufnahme wird durch die im Einsatz- und Streifendienst der am Sitz der PI angebundenen Tatortgruppe "rund-um-die-Uhr" wahrgenommen. Je nach Einsatzlage wird hier zumindest am Tage zur Tatortaufnahme das fachkompetente Personal in Brake und Nordenham hinzugezogen.
Darüber hinaus obliegen die in einigen spezialisierten Bereichen der Kriminalitätssachbearbeitung zuvor vom Zentralen Kriminaldienst der PI Wesermarsch wahrgenommen Aufgaben jetzt zentral der PI in Cuxhaven. Sofern aus sachlichen und fachlichen Erwägungen angezeigt, werden dabei jedoch durch Nutzung der bereits erwähnten Öffnungsklausel einzelne Deliktsfelder weiterhin in den Polizeikommissariaten in Brake und Nordenham bearbeitet. Dies gilt z. B. für Bereiche der Sexualdelikte, Todesursachenermittlung, Brandursachenermittlung und Bereiche der qualifizierten Raubdelikte.
Zu 2.:
Zahlen für das Kalenderjahr 2005 liegen nicht vor, Erhebungen wurden beginnend zum 2. Quartal 2005 vorgenommen.
In der Zeit vom 1. April 2005 bis zum 1. April 2006, also im Zeitraum eines Jahres, wurde danach die Tatortgruppe der Inspektion in insgesamt 101 Fällen im Landkreis Wesermarsch tätig. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass vor dem Hintergrund der Anfahrtswege - wie bereits erwähnt - die Fachkompetenz der Beschäftigten in den Kriminalermittlungsdiensten der Kommissariate im Landkreis Wesermarsch für die spezialisierte Tatortaufnahme zumindest tagsüber hinzugezogen wird. Es werden insofern nicht alle speziellen Tatorte ausschließlich durch die Tatortgruppe aus Cuxhaven aufgenommen.
Erfolgt die Tatortaufnahme durch die Tatortgruppe, warten die in der Regel zuerst am Einsatzort eintreffenden Beamten der örtlichen Dienststelle jedoch nicht untätig, bis die Tatortgruppe zur weiteren Aufnahme erscheint. Vielmehr sind durch diese Kräfte Sofortmaßnahmen zu erledigen (z. B. Personalienfeststellungen, Tatortabsicherung), die eine anschließende qualifizierte und spezielle Tatortaufnahme vorbereiten, damit die Übernahme erleichtern und Doppelarbeiten ausschließen.
Insofern gestaltet sich in der alltäglichen Arbeit das Zusammenspiel zwischen Tatortgruppe und örtlicher Dienststelle fließend, wobei in der Regel der Weg gewählt wird, der der Effektivität der Tatortaufnahme am ehesten gerecht wird.
Zu 3.:
Eine gesonderte Datenerhebung erfolgt hierzu nicht. Auf Grundlage der unter Nummer 2. dargestellten Anzahl der Einsätze der Tatortgruppe innerhalb des Landkreises Wesermarsch ließe sich - auf Basis der Werte einschlägiger Routenplaner - die aufgewendete Arbeitszeit durch Fahrtzeiten in Bezug auf die Standorte Brake und Nordenham stellvertretend für den gesamten Landkreis wie folgt hochrechnen:
- Entfernung von Cuxhaven nach Brake = 71,4 km, entspricht einer Fahrtzeit von 57 Minuten
- Entfernung von Cuxhaven nach Nordenham = 53,4 km, entspricht einer Fahrtzeit von 53 Minuten
Damit ergäbe sich ein rechnerischer Fahrtaufwand von täglich ca. 31 Minuten bzw. monatlich ca. 16 Stunden, was bei einer Funkstreifenbesatzung mit zwei Mitarbeitern einen Arbeitsaufwand von 0,19 Vollzeiteinheiten entspräche. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass während der Fahrtzeiten in vielen Fällen bereits zu den aufgenommen Delikten bzw. Tatorten Folgearbeiten durchführt werden, etwa in dem der Beifahrer Befundberichte diktiert und damit den späteren Arbeitsaufwand bei der Vorgangserstellung reduziert.
Artikel-Informationen
erstellt am:
23.06.2006
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010