Präventive Telekommunikationsüberwachung
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wenzel und Lennartz (Grüne)
Es gilt das gesprochene Wort
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 16.09.2005
Die Abgeordneten hatten gefragt:
Die taz berichtet in ihrer Ausgabe vom 19. Juli 2005 über den Fall eines Göttinger Studenten, der im Vorfeld des letzten CASTOR-Transportes im vergangenen Herbst von der Polizei lückenlos observiert und darüber hinaus telefonüberwacht wurde. Darüber wurde er nun informiert. Im Nachhinein erfuhr der Student, dass er über einen Zeitraum von zwei Wochen Tag und Nacht beschattet und von Polizeibeamten sogar bis auf die Toilette verfolgt worden war, um etwaige Treffen zu belauschen. Auch die Telefonate seiner Mitbewohner wurden abgehört. Zudem wurde das Auto eines Bekannten mit einem GPS-Peilsender versehen.
Anlass für die Observation war nach Aussagen der Polizei die Befürchtung, der Student könnte sich an Aktionen gegen den kommenden CAS-TOR-Transport beteiligen. Begründet sahen sie dies durch die Beteiligung des Studenten an einem eingestellten Verfahren im Zusammenhang mit einem früheren CASTOR-Transport, in seiner Mitgliedschaft im Göttinger Anti-Atom-Plenum sowie in einer dem Studenten zugeschriebenen Gestaltung eines Plakats, das zu einer Anti-Atom-Party einlud.
Lediglich die Telefonüberwachung wurde gerichtlich bestätigt, zu der Observation hat sich die Göttinger Polizei unter Berufung auf den § 33 a Nds. SOG selbst ermächtigt.
Durch den § 33 a Nds. SOG kann die Polizei nach Absatz 1 Nr. 2 personenbezogene Daten durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation über Personen erheben, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden, wenn die Vorsorge für die Verfolgung oder die Verhütung
dieser Straftaten auf andere Weise nicht möglich erscheint; § 33 a Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG ermöglicht die Datenerhebung auch über Kontakt- und Begleitpersonen der in Nummer 2 genannten Personen, wenn dies zur Vorsorge für die Verfolgung oder zur Verhütung einer Straftat nach Nummer 2 unerlässlich ist.
Diese vorbeugende Telefonüberwachung ohne jeglichen Tatverdacht ist hoch umstritten und wird derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht beklagt.
Wir fragen die Landesregierung:
1. In wie vielen Fällen seit In-Kraft-Treten des Nds. SOG wurde der § 33 a mit jeweils welchen Ergebnissen von der niedersächsischen Polizei angewendet?
2. Wie beurteilt die Landesregierung die Entscheidung für die Anwendung des § 33 a Nds. SOG vor dem Hintergrund der in dem geschilderten Fall angeführten Gründe (Beteiligung in einem eingestellten Verfahren, Mitgliedschaft in einer Anti-Atom-Gruppe, Gestaltung eines Party-Plakats), auch in Abgrenzung zu den §§ 100 a ff. StPO, die einen Anfangsverdacht im strafprozessualen Sinne voraussetzen?
3. Durch welche Umstände sieht die Landesregierung die im geschilderten Fall vorliegende Anwendung der präventiven Telekommunikationsüberwachung auch auf Kontakt- und Begleitpersonen nach § 33 a Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG gerechtfertigt?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:
Die Fragen beziehen sich auf § 33 a Nds. SOG, wonach die Polizei zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person (Absatz 1 Nr. 1) sowie zur Vorsorge für die Verfolgung und zur Verhütung von Straftaten (Absatz 1 Nrn. 2 und 3) die Telekommu-nikation bestimmter Personen überwachen darf.
Das Bundesverfassungsgericht hat § 33 a Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Nds. SOG auf eine Verfassungs-beschwerde hin mit Urteil vom 27.07.2005 für nichtig erklärt. Die Polizeibehörden wurden un-verzüglich angewiesen, sämtliche nach den für nichtig erklärten Vorschriften laufenden Maßnahmen noch am Tag der Urteilsverkündung zu beenden.
In dem von den Fragestellern aufgegriffenen Fall eines Göttinger Studenten kam es im Vorfeld des Castor-Transports im Herbst des Jahres 2004 zu einer Datenerhebung durch
1. die Überwachung der Telekommunikation (TKÜ) nach § 33 a Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG,
2. eine längerfristige Observation nach § 34 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG sowie
3. den verdeckten Einsatz technischer Mittel nach § 35 Abs. 1 Nds. SOG - hier Peilsender und GPS-Sender - .
Die Maßnahmen wurden zur Verhütung von Straftaten durchgeführt, da es Hinweise gab, dass der Betroffene, gegen den bereits im Zusammenhang mit einer Barrikadeaktion während des Castor-Transports 2003 Ermittlungen geführt worden waren (das Strafverfahren wurde wegen Geringfügigkeit, nicht wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt), in diesem Jahr schwerwiegendere Straftaten plante mit dem Ziel, den Transport tatsächlich zum Anhalten zu zwingen.
Die Überwachung der Telekommunikation war durch Beschluss des Amtsgerichts Göttingen vom 14.10.2004 angeordnet worden; Observation und verdeckter Einsatz technischer Mittel bedurften keiner richterlichen Anordnung.
Die Maßnahmen wurden nach Durchlauf des Castor-Transports am 08.11.2004 beendet. Mit Schreiben vom 30.11.2004 wurde der Betroffene gem. § 30 Abs. 4 Nds. SOG über die verdeckte Datenerhebung unterrichtet.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts Göttingen zur Überwachung der Telekommunikation legte der Betroffene im Juni dieses Jahres Beschwerde ein. Das Landgericht Göttingen hat über die Beschwerde mit Beschluss vom 27.07.2005 entschieden und unter Hinweis auf die zuvor durch das Bundesverfassungsgericht verkündete Nichtigkeit des § 33 a Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Nds. SOG die Rechtswidrigkeit der Maßnahme festgestellt. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die TKÜ unter Geltung des § 33 a Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG hat das Landgericht nicht mehr geprüft.
Dieses vorausgeschickt, beantworte ich die Frage der Abgeordneten Lennartz und Wenzel namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Nach den mir vorliegenden Meldungen der Polizeibehörden wurde seit In-Kraft-Treten der Vorschrift am 19.12.2003 angewendet
• § 33 a Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Nds. SOG, TKÜ zur Vorsorge für die Verfolgung und zur Verhütung von Straftaten: 13 Fälle;
• § 33 a Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG, TKÜ zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person: In 257 Fällen (Stichtag: 01.08.2005). Dabei erfolgte eine Über-wachung von Kommunikationsinhalten nur in 6 Fällen; ansonsten handelte es sich bei den Maßnahmen zur Gefahrenabwehr um einzelne Abfragen von Verbindungsdaten und in der ganz überwiegenden Mehrzahl um Standortkennungen aktiv geschalteter Mobilfunkgeräte von vermissten Personen, die einer Fremd- oder Eigengefährdung (Suizidgefahr) unterlagen.
Hinsichtlich der mit den Maßnahmen erzielten Ergebnisse lassen sich keine verallgemeinernden Aussagen treffen.
Durch die zur Verhütung von Straftaten durchgeführte TKÜ-Maßnahmen (Absatz 1 Nrn. 2 und 3) konnten so
- Kontakt- und Netzwerkerkenntnisse im Bereich radikal-islamistischer Gruppierungen gewonnen werden, die im Verdacht standen, Bezüge zum islamistischen Terrorismus zu haben
- Anhaltspunkte für die Ergreifung eines aus dem Maßregelvollzug flüchtigen Sexualstraftäters gewonnen werden
- konkrete Fahndungsansätze zur Ergreifung eines flüchtigen Jugendlichen gewonnen werden, der seinen Lebensunterhalt durch Einbruchdiebstähle bestritt
- konkrete Fahndungsansätze zur Ergreifung einer flüchtigen Person gewonnen werden, der seinen Lebensunterhalt durch eine Vielzahl von Betrugsdelikten im gesamten Bundesgebiet bestritt und sich des Zugriffsversuchs der Polizei bereits durch eine waghalsige Flucht mit einem Pkw entzogen hatte
- weitere schwerwiegende Straftaten eines schwer Drogenabhängigen durch dessen Standortbestimmung verhindert werden.
Soweit zur Gefahrenabwehr (Absatz 1 Nr. 1) auch Gesprächsinhalte überwacht wurden, handelte es sich um Gefährdungssachverhalte im Zusammenhang mit einer im Zeugenschutzprogramm befindlichen Person, die Freiheitsberaubung einer Mutter und ihres Kindes durch den Ehemann, eine ernst zu nehmende Bedrohungslage zum Nachteil einer Vielzahl von Personen durch eine aus der JVA zu entlassende Person und um den Verdacht einer Entführungslage, eine Vermisstensache einer 15-jährigen und um eine akute familiäre Bedrohungslage.
Zu 2.:
Die Überwachung der Telekommunikation war in dem von den Fragestellern aufgegriffenen Fall unter den Voraussetzungen des § 33 a Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG zulässig; entsprechend hat das Amtsgericht Göttingen in seinem Beschluss über die Anordnung der Maßnahme entschieden. Maßnahmen zur Verhütung von Straftaten sind von strafprozessualen Maßnahmen nach dem Gegenstand des Verdachts abzugrenzen. Während sich der strafprozessuale Tatverdacht darauf bezieht, dass eine Straftat bereits begangen wurde, geht es bei der Verhütung von Straftaten um den Verdacht, dass eine Straftat erst bevorsteht. Vorliegend ging es um die Verhinderung einer Straftat. Im Übrigen siehe Vorbemerkung.
Zu 3.:
Eine präventive Telekommunikationsüberwachung von Kontakt- und Begleitpersonen nach § 33 a Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG hat es im vorliegenden Fall nicht gegeben, sie wurde auch nicht bei Gericht beantragt. Überwacht wurde ausschließlich der Anschluss des Betroffenen, der selbst Verdachtsperson i.S.v. § 33 a Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG war. Mitbetroffen wurden von der Maßnahme mögliche Mitnutzer des Anschlusses sowie die jeweiligen Gesprächspartner. Dies ist nach § 33a Abs. 2 Satz 3 Nds. SOG, wonach die Maßnahme auch durchgeführt werden darf, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden, von der Ermächtigung nach § 33 a Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG gedeckt. Eine Überwachung nach § 33 a Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG liegt hingegen nur dann vor, wenn eigene Anschlüsse der Kontakt- und Begleitperson überwacht werden.
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Artikel-Informationen
erstellt am:
16.09.2005
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010