Widerspruchsverfahren
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 20.05.2005; TOP 39 Rede von Innenminister Uwe Schünemann zum Antrag der Fraktion der SPD
Anrede,
dieser Entschließungsantrag über die Wiedereinführung des Widerspruchsverfahrens vermittelt den Eindruck, dass die SPD-Fraktion in das letzte Jahrhundert zurück springen will. Und damit meine ich den Anfang des letzten Jahrhunderts. Der Umgang des Staates mit seinen Bürgerin-nen und Bürgern hat sich aber seit dieser Zeit entscheidend verändert.
Anrede,
seit Anfang des Jahres ist in Niedersachsen das verwaltungsgerichtliche Vorverfahren in den meisten Rechtbereichen für fünf Jahre ausgesetzt. Die Landesregierung hat damit wichtige Voraussetzungen geschaffen für eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren innerhalb der Landes- und Kommunalverwaltung.
Mit der Abschaffung der Bezirksregierungen ist eine Behörde aufgelöst worden, die in hohem Maße mit der Bearbeitung von Vorverfahren im übertragenen Wirkungskreis der Kommunen beschäftigt war.
Wir haben aus guten Gründen nicht vorgeschlagen, diese Aufgabe einfach umzuverteilen. Die Aufgabenkritik, der wir auch die Widerspruchsverfahren unterzogen haben, hat ergeben, dass Vorverfahren in den allermeisten Fällen nicht zu einer Änderung des Ausgangsbescheides führen. Der Anteil der Bescheide, die im Rahmen eines Vorverfahrens geändert wurden - die so genannte Abhilfequote - lag im Schnitt der Jah-re 2002 und 2003 bei etwa 15 Prozent. Der Anteil der erfolgreichen Klagen gegen Ausgangsbescheide in der Fassung der bestätigenden Widerspruchsbescheide lag bei etwa 5 Prozent, in vielen Rechtgebieten bei null Prozent.
Diese Zahlen sind im Gesetzgebungsverfahren erörtert worden. Niemand hat sie angezweifelt, auch die SPD-Fraktion nicht. Aus dieser Feststellung sind Konsequenzen zu ziehen. Das Vorverfahren ist zwar weder fristlos noch formlos, aber überwiegend fruchtlos.
Die Realität zeigt, dass die Ausgangsbescheide seit Jahren von ganz überwiegend hoher Qualität sind und deshalb im Vorverfahren Bestand haben.
Manche kommunalen Vertreter haben mir berichtet, dass ihre sorgfältigen Nichtabhilfevermerke von den Bezirksregierungen fast wortgleich als Widerspruchsbescheid verwendet werden konnten und wurden. Das zeigt doch, die Kommunalverwaltungen arbeiten hervorragend.
Anrede,
die Öffnungsklausel in der Verwaltungsgerichtsordnung des Bundes, Widerspruchsverfahren abzuschaffen, besteht seit 1996. Sie wurde vom Bundesgesetzgeber eingefügt, weil schon damals das Vorverfahren auf dem Prüfstand war. Dies ist der SPD als damaliger Regierungsfraktion in Niedersachsen nicht verborgen geblieben. Sie hatte 1997 in Abstimmung mit dem Innenministerium einen Gesetzesentwurf mit dem Inhalt in den Landtag eingebracht, alle so genannten einstufigen Vorverfahren abzuschaffen. Leider fehlte der Fraktion damals der Mut, diesen Entwurf zum Gesetz zu machen.
Andere Länder waren mutiger. Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen-Anhalt sind Länder, die inzwischen viele Vorverfahren abgeschafft haben. Niemand in diesem Hohen Hause kann ernstlich behaupten, der Rechtsschutz der Bürger würde in Deutschland zurück gedrängt. Was richtigerweise zurückgedrängt wird, ist der teure Instanzenstaat.
Ich würde der SPD- Fraktion empfehlen, beim Thema Rechtsschutz genauer hinzusehen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu dahin geäußert, dass das Vorverfahren die Bürger nicht unzumutbar lange von den Verwaltungsgerichten fern halten darf. Denn auf den gerichtlichen Rechtsschutz gibt es in Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes einen Anspruch. Die Abschaffung der Vorverfahren dient damit auch dem Rechtsschutz des Bürgers. Welchen Wert hat ein Vorverfahren für die Bürgerinnen und Bürger, das mehrere Monaten oder ein Jahr dauert und mit großer Wahrscheinlichkeit in die unveränderte Entscheidung mündet?
Anrede,
unstrittig ist jedoch: Weder möchte der Bürger sofort klagen, noch will die Behörde sofort verklagt werden.
Wir wissen auch, und die Zeit seit dem Jahreswechsel hat das bestätigt, dass die Behörden und die Bürgerinnen und Bürger nicht so phantasielos sind, wie die SPD- Fraktion offenbar glaubt. Die Kommunen haben die Bürgerinnen und Bürgern umfassend und offensiv über die neuen Beschwerdemöglichkeiten informiert. Ihnen wurde geraten, anstatt zu klagen sich schriftlich oder telefonisch an die Behörde zu wenden, um gemeinsam Fehler auszuräumen.
Seit der Abschaffung von Vorverfahren beraten die Behörden noch mehr, hören sorgfältiger an, ermitteln mehr und gehen im Konfliktfall noch mehr auf die Bürger zu. Dies ist modernes Beschwerdemanagement, das von den Kommunen, aber auch von den Landesbehörden aufgebaut wird und das den veränderten Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern auszeichnet.
Es gibt in dem modernen Beschwerdemanagement eben mehr als nur die förmlichen Rechtsbehelfe Widerspruch und Klage.
Die Stabstelle Verwaltungsmodernisierung hat seit Herbst 2004 viele Kommunen, Behörden und Einrichtungen im Umgang mit der neuen Rechtslage eingehend beraten. Viele Verwaltungen unternehmen große Anstrengungen, um zeitraubende Konflikte zu vermeiden. Statt Konflikte auf die Gerichte zu delegieren, verändern sie ihren Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern und verbessern ihre Qualität.
Anrede,
manche Verwaltungsgerichte haben Zahlen veröffentlicht, dass die Klageverfahren zugenommen haben. Die Zahlen sind allerdings noch immer geprägt von Altverfahren, in denen es noch ein Vorverfahren gab.
Aus anderen Ländern wissen wir, dass es nach einer solchen Reform übergangsweise einen beachtlichen Anstieg der Klageverfahren gibt. Die Zahl der Klageverfahren wird sich aber auch wieder stetig verringern. In Bayern hat sich die Zahl der Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz wieder auf das Niveau aus der Zeit vor der Reform verringert. Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Behörden müssen sich auf die Rechtslage einstellen.
Wir wollen zwei Dinge tun:
Zum einen werden wir diese Entwicklung verfolgen und mit den Beteiligten auswerten. Die Aussetzung des Vorverfahrens ist zu diesem Zweck befristet.
Zum anderen schlagen wir aber auch vor, den Kommunen bei der Entwicklung ihres Beschwerdemanagements zu helfen, indem sie mehr zeitlichen Spielraum für die Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern bekommen.
Erste Erfahrungen bei der Anwendung des neuen Rechts haben gezeigt, dass in rechtlich oder tatsächlich besonders komplexen Massenverfahren der Aufbau eines Dialoges zwischen Verwaltung und Betroffenen mit dem Ziel der Vermeidung von Massenprozessen Zeit braucht.
Die Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung des Bundes ist oft zu kurz.
Fristwahrende Klagerhebungen mit Kostenfolgen für den Klagenden können die Folge sein. Die Kommunen müssen deshalb selbst entscheiden können, ob sie die Monatsfrist durch eine ord-nungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung auslösen oder ob sie durch einen Verzicht darauf sich und dem Adressaten des Bescheides mehr zeitliche Spielräume verschaffen wollen. Da auch die Verwaltung der Kommunen ein grundsätzliches Interesse an Verfahrensbeschleunigung hat, wird sie in der Regel eine Rechtsbehelfsbelehrung beifügen. Die in der Gemeindeordnung und im Kommunalabgabengesetz verankerten Pflichten für Gemeinden, ihren schriftlichen Bescheiden Rechtbehelfsbelehrungen anzufügen und die damit jeweils ausgelöste Klagefrist von einem Monat sollten aber gestrichen werden.
Ohne solche Zwänge könnten die Kommunen Abhilfe schaffen, ohne befürchten zu müssen, mit einer Vielzahl von Klagen konfrontiert zu werden. Die Landesverwaltung hat diese Option schon heute.
Anrede,
wir werden unseren Weg, die niedersächsische Landesverwaltung zu modernisieren und leistungsfähiger zu gestalten, nicht verlassen. Den Weg in das letzte Jahrhundert, meine Damen und Herren von der SPD, werden Sie alleine anzutreten haben.
Artikel-Informationen
erstellt am:
20.05.2005
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010
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