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Ingewahrsamnahme bei Castortransporten

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 12.12.2003; Fragestunde Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Briese (GRÜNE) Es gilt das gesprochene Wort!


Der Abgeordnete hatte gefragt:

Bei den CASTOR-Transporten im November 2003 kam es in den Sammelstellen für Ingewahrsamnahmen (GeSa) zu sehr langen Verfahrensdauern. Teilweise konnte man den Verdacht haben, die Polizei verschleppe die Verfahren bewusst, um die festgehaltenen Demonstranten nicht vor Einlagerung der CASTOR-Behälter im Zwischenlager Gorleben wieder auf freien Fuß setzen zu müssen. Die GeSa Neu Tramm war personell und strukturell auf ihre Aufgaben gut vorbereitet, um eine große Anzahl von festgesetzten Personen zügig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu bearbeiten. Es waren mehr als 500 Polizisten und eine Vielzahl von Verwaltungskräften am Ort. Zudem hatte das Amtsgericht Dannenberg eine provisorische Außendienststelle in der GeSa eingerichtet, die personell ebenfalls gut besetzt war.

Das Grundgesetz schreibt in Artikel 104 bei freiheitsentziehenden Maßnahmen eine unverzügliche richterliche Anhörung vor. Die beteiligten Anwälte vor Ort kritisieren, dass von einem rechtsstaatlichen Vorgehen der Polizei keine Rede sein könne, da die richterliche Vorführung sehr lange hinausgezögert wurde. Teilweise mussten die festgesetzten Personen mehr als zehn Stunden auf ihre mündliche Anhörung warten, obwohl die Einsatzleitung im Vorfeld versichert hatte, dass alle festgehaltenen Personen zügig einem Richter vorgeführt werden würden. Die anwesenden Richter vor Ort waren über die sehr langsame Vorführung der Demonstranten durch die Polizei sichtlich ungehalten.

Ich frage die Landesregierung:

  1. Welche Erkenntnisse hat sie über die Gründe der schleppenden Verfahrensabwicklung, obwohl die GeSa personell und organisatorisch gut ausgestattet war?

  2. Wie lange darf nach ihrer Ansicht das schlichte Anlegen einer Personen- und Ermittlungsakte durch kompetente niedersächsische Beamte oder Angestellte höchstens dauern?

  3. Wie will sie bei zukünftigen CASTOR-Transporten die grundgesetzlich verbürgte unverzügliche richterliche Anhörung nach einer Freiheitsentziehung sicherstellen?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Mündliche Anfrage wie folgt:

Das Grundgesetz (GG) schreibt in Art. 104 Abs. 2 ebenso wie das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz in § 19 Abs. 1 bei einer Ingewahrsamnahme die unverzügliche Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung vor. "Unverzüglich" im Sinne des GG und des NGefAG bedeutet "ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen - tatsächlichen oder rechtlichen- Gründen rechtfertigen lässt, kurz, ohne jede vermeidbare Säumnis (Maunz/Düring/Herzog, GG-Kommentar, RN 38 zu Art. 104)". Zur Unverzüglichkeit der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 15. Mai 2002 – 2 BvR 2292/00 – anerkannt, dass Verzögerungen aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein können. Nicht vermeidbar sind danach z. B. die Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten der festgehaltenen Person oder vergleichbare Umstände bedingt sind. Bei der Ingewahrsamnahme einer Vielzahl von Personen können diese Maßnahmen naturgemäß nicht genauso schnell wie bei der Ingewahrsamnahme Einzelner durchgeführt werden, da im Regelfall – und so auch anlässlich des CASTOR-Transportes 2003 – eine große Zahl von Vorgängen gleichzeitig zu bearbeiten ist. Darüber hinaus führen die besonderen, insbesondere örtlich weiträumigen, Gegebenheiten während der CASTOR-Transporte zu einem erhöhten Zeitaufwand der polizeilichen Maßnahmen.

Die mündliche Anfrage bezieht sich augenscheinlich auf eine Personengruppe aus Rohstorf, die am Vormittag des 11.11.2003 in Gewahrsam genommen worden ist.

Gegen 10.00 Uhr erfolgte die Meldung, dass sich ca. 150 Personen auf den Gleisen bei Rohstorf /LK Lüneburg befinden sollten. Gegen 10.20 Uhr trafen zwei Hundertschaften des Einsatzabschnitts (EA) Aufklärung/Zugriff dort ein. Zwischen 10.36 Uhr und 10.41 Uhr erfolgten drei Aufforderungen, die Schienen zu verlassen, denen nicht nachgekommen wurde. Um 10.43 Uhr erfolgte die Durchsage, dass Ingewahrsamnahmen durchgeführt werden würden. Ab 10.44 Uhr wurde mit den angekündigten Maßnahmen begonnen. Die Personen wurden dem EA Kriminalitätsbekämpfung übergeben. Insgesamt handelte es sich um 139 Personen. Die Räumung der Gleisstrecke selbst dauerte bis 11.47 Uhr.

Anschließend wurden sämtliche 139 Personen sowie deren mitgeführte Sachen durchsucht, mitgeführte Gegenstände asserviert, soweit vorhanden wurden gefährliche Gegenstände sichergestellt, die Identität festgestellt und überprüft sowie entsprechende Kurzberichte gefertigt. Ab 14.15 Uhr wurden die Personen in die Gefangenentransportfahrzeuge gebracht und Asservate verladen.

Danach wurden die Personen in die Gefangenensammelstellen(GeSa) Lüneburg und Neu Tramm verbracht.

Der Transport gestaltete sich schwierig, insbesondere war seine Sicherung notwendig, weil es vor dem Einsatz in Rohstorf zu Zwischenfällen kam, die einen erhöhten Eigensicherungsbedarf belegten.

In der Nacht zum 08.11.03 umringten ca. 100 Personen, die einige Traktoren mitführten, zwei besetzte Funkstreifenwagen. Hierbei wurden die Reifen der Dienstfahrzeuge zerstört und die Beamten mussten Pfefferspray einsetzen. Erst bei Eintreffen von Verstärkungskräften flüchteten die Täter. Am selben Abend wurde an der Rückseite der Ortsunterkunft (OU) Neu Tramm am Zaun ein Traktor mit einer Hebebühne festgestellt. Möglicherweise wollte man auf das Gelände der GeSa Neu Tramm eindringen. Außerdem wurden am 11.11.03 auf der Umgehungsstraße bei Dahlenburg/LK Lüneburg, also in zeitlicher und räumlicher Nähe zum bevorstehenden Einsatz, mehrere Reifen von Gefangenentransportbussen durch Krähenfüße beschädigt. Darüber hinaus rissen bereits Mitte Oktober unbekannte Täter den Zaun der OU Neu Tramm samt Pfählen auf einer Länge von 200 m ein.

Aufgrund der geschilderten Situationen bestand Gefahr für Leib und Leben von Polizeibeamten, von zu transportierenden Personen und von Sachen von bedeutendem Wert.

Durch die erforderliche Transportsicherung mussten daher geringere Geschwindigkeiten gefah-ren werden. Zeitweise wurde zudem ein Aufklärungsfahrzeug den Gefangenenbussen voraus geschickt. Auch Fahrten einzelner Busse – wie ursprünglich vorgesehen - waren aufgrund der geschilderten erhöhten Gefährdungslage nicht möglich. Wegen angekündigter Blockadeaktionen in Metzingen an der B 216 musste ein Umweg über Riebrau und Zernien - B 191 - gefahren werden. Diese Maßnahmen verursachten einen erheblichen Zeitaufwand.

Um 15.10 Uhr traf der erste Gefangenentransportbus in Neu Tramm ein und die Personen wurden den Kräften der GeSa übergeben und erneut durchsucht. Dies war aus Eigensicherungsgründen erforderlich und entspricht auch dem polizeifachlichen Standard. Danach wurden die Personen erfasst und Lichtbilder gefertigt. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, Angehörige und/oder Rechtsanwälte zu informieren.

Die Vorgangserstellung und –bearbeitung begann bereits gegen 15.00 Uhr. Hierzu zählen ein Bericht des Einsatzleiters vor Ort, ein Bericht des Transportverantwortlichen sowie die Anhörung der Aufklärungskräfte. Nachdem die Unterlagen vorlagen, entschied das Gericht, den Einsatzleiter, den Transportführer und die Aufklärer zusätzlich selbst zu hören, was bis ca. 17.00 Uhr dauerte.

Gegen 18.00 Uhr begannen die Vorführungen vor den Richter. Die Mehrzahl der Akten traf zwischen 19.30 und 21.30 Uhr beim Gericht ein.

Verzögernd auf die gerichtlichen Vorführungen wirkte sich aus, dass von 15.56 – 16.27 Uhr das Softwareprogramm "GeSa 2000" ausfiel und eine Aufnahme von Personen in diesem Zeitraum nicht möglich war. Außerdem musste aufgrund technischer Schwierigkeiten in der Zeit von ca. 18.00 – 18.30 Uhr ein Kopierer ausgetauscht werden, der für die Aktenzusammenstellung zwingend erforderlich war. Auch mussten in Gewahrsam genommene Personen, die über gesundheitliche Beschwerden klagten, versorgt werden. Schließlich kam es am Abend zu einer dreißigminütigen Verzögerung, da kein Rechtsanwalt anwesend war, die Personen aber auf Rechtsbeistand bestanden.

Die Anhörungen und Entscheidungen wurden bis ca. 04.30 Uhr fortgeführt. Danach wurden im Hinblick auf den Zeitablauf, der eine Fortdauer der Ingewahrsamnahme unverhältnismäßig werden ließ und den Umstand, dass ein alsbaldiges Eintreffen des Transportes in das Zwischen-lager zu erwarten war, alle zu diesem Zeitpunkt noch in Gewahrsam befindlichen Personen entlassen.

Bis zu diesem Zeitpunkt sind 82 Anträge gestellt worden, von denen 20 bestätigt wurden. Vor 4.30 Uhr wurden 51 Personen aus dem Gewahrsam entlassen.

Der Direktor des Amtsgerichts Dannenberg, der die Abläufe am 11. und 12. November 2003 weitestgehend selbst wahrgenommen hat, hat sich nach eigenen Angaben nicht "sichtlich ungehalten über die sehr langsame Vorführung der Personen durch die Polizei" geäußert. Auch hat er entsprechende Äußerungen von anderen Richtern nicht wahrgenommen.

Eine Befragung des gesamten Justizpersonals, das bei dem Castor-Transport im November 2003 im Einsatz war, erfolgte in der Kürze der Zeit nicht.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Siehe Vorbemerkung.

Zu 2.:

Das Anlegen der Ermittlungsakten umfasst umfangreiche Arbeitsschritte. Eine generell gültige Bearbeitungsdauer kann dafür nicht genannt werden, da sie sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet.

Im Übrigen siehe Vorbemerkung.

Zu 3.:

Auch in diesem Jahr war die grundgesetzlich verbürgte unverzügliche richterliche Anhörung nach einer Freiheitsentziehung sichergestellt.

Unabhängig hiervon wird die Bezirksregierung Lüneburg, wie bei Polizeieinsätzen dieser Dimension üblich, den Einsatz auch mit dem Ziel analysieren, die Abläufe weiter zu verbessern.

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