Zuständigkeit der oberen Versammlungsbehörde
Sitzung Nds. LT am 21.11.2003; TOP 17/3 Justizministerin Heister-Neumann beantwortet i. V. v. Innenminister Schünemann die Mdl. Anfr. des Abg. Dr. Lennartz (Die Grünen) Es gilt d. gesprochene Wort!
Der Abgeordnete hatte gefragt:
Mit der von der Landesregierung geplanten Auflösung der Bezirksregierungen sollen die Aufgaben der Polizeibehörden auf neu zu schaffende Polizeidirektionen übertragen werden. Während bisher nur für die Großräume Hannover und Braunschweig Polizeidirektionen eingerichtet sind, die den jeweiligen Bezirksregierungen nachgeordnet sind, sollen jetzt neu zu schaffende Polizeidirektionen eingerichtet werden, um u. a. als obere Versammlungsbehörde bei größeren Veranstaltungen Genehmigungen und Auflagen auszusprechen.
Faktisch wird damit die Versammlungsfreiheit unter einen Zweckmäßig-keitsvorbehalt der Polizei gestellt, zumal das Bundesverfassungsgericht - wenn auch ausdrücklich nur für den Einsatz vor Ort - Zurückhaltung der Polizei angemahnt hat. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass die im Zusammenhang mit CASTOR-Transporten bereits bekannte restriktive Praxis der Genehmigung auf das ganze Land Niedersachsen ausgedehnt wird.
Aus einigen Landkreisen und auch von der Polizeigewerkschaft ist hieran Kritik geübt worden. Die Landkreise halten es für nicht hinnehmbar, wenn die Polizei über Veranstaltungen entscheidet, die sie selbst später mit Polizisten schützt. Der Vorsitzende der GdP Witthaut sieht Niedersachsen mit einer solchen Regelung "auf dem Weg in den Polizeistaat". Ähnlich reagierte auch die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannen-berg e. V. in ihrer Presseerklärung vom 25. August 2003. Wichtigste Voraussetzung eines grundrechtsschützenden Umgangs mit politischen
Konflikten bleibe die höchst notwendige Einsicht der Politik, dass es weder Polizeiaufgabe sei noch in ihrem Kompetenzbereich liege, diese Konflikte zu lösen.
Ich frage die Landesregierung:
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Wie begründet sie die sachliche Notwendigkeit und angebliche Effizienzsteigerung einer Übertragung des Genehmigungsverfahrens an die neu zu schaffenden Polizeidirektionen?
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Mit welchen Organisationsstrukturen gedenkt sie Genehmigungsverfahren und Polizeieinsatzplanung auch nach außen hin - vor allem den Veranstaltern gegenüber - so sauber und überzeugend von einander zu trennen, dass sich die zum Teil bekanntermaßen ausgeprägten Fronten zwischen Versammlungsbeteiligten und Polizei nicht bereits im Vorfeld unnötig verhärten?
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Inwieweit glaubt sie, mit der geplanten Neuordnung der Zuständigkeit der oberen Versammlungsbehörde der vom Bundesverfassungsgericht geforderten "Kooperation" der an der geplanten Versammlung Beteiligten (Veranstalter, Gegenveranstalter, Polizei) Rechnung tragen zu können, wenn der Polizei eine Doppelrolle als Entscheidungsträgerin und Beteiligte zukommt?
Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann beantwortete in Vertretung von Innenminister Uwe Schünemann namens der Landesregierung die Mündliche Anfrage wie folgt:
Die Aufgaben nach dem Versammlungsgesetz obliegen den Landkreisen, der Region Hannover, den kreisfreien Städten, großen selbständigen Städten und selbständigen Gemeinden als untere Versammlungsbehörden. An Stelle der Städte Hannover und Braunschweig nehmen die dortigen Polizeidirektionen die Aufgaben für das jeweilige Stadtgebiet wahr. Versammlungen bedürfen keiner Genehmigung. Die genannten Behörden entscheiden - regelmäßig unter Einbeziehung polizeilicher Belange -, ob Versammlungen wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verboten werden müssen oder nur mit Beschränkungen zum Beispiel hinsichtlich des Ortes, Weges oder Zeitpunktes stattfinden können.
Im bisherigen dreistufigen Aufbau der Landesverwaltung üben die Bezirksregierungen die Funktion der Fachaufsicht über die unteren Versammlungsbehörden aus. Hierzu gehören unter anderem die rechtliche Beratung und die Bestimmung der zuständigen Behörde bei Versammlungen, die über den örtlichen Zuständigkeitsbereich einer Versammlungsbehörde hinaus gehen.
Eigene Entscheidungen über Versammlungsverbote und -beschränkungen treffen die Bezirksregierungen dem Grundsatz nach nicht. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die Bezirksregierung vom Selbsteintrittsrecht nach § 102 NGefAG Gebrauch macht, weil dies zur sachgerechten Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Der einzige, dem Ministerium für Inneres und Sport bekannte Anwendungsfall sind versammlungsrechtliche Entscheidungen der Bezirksregierung Lüneburg im Zusammenhang mit den CASTOR-Transporten in das Zwischenlager Gorleben. Eine restriktive Praxis ist dabei nicht feststellbar. So sind bei den letzten Transporten rund 90 Prozent der angemeldeten Versammlungen, über die behördlich zu entscheiden war, bestätigt oder mit Auflagen zugelassen worden. Die versammlungsrechtlichen Entscheidungen der Bezirksregierung Lüneburg sind im Übrigen durchweg gerichtlich bestätigt worden, teilweise bis zum Bundesverfassungsgericht.
Die Fachaufsicht der Bezirksregierungen führen Angehörige des allgemeinen Verwaltungsdienstes aus und kooperieren dabei eng mit den Verantwortlichen der Polizei. Sie sind in der Regel bereits in die Dezernatsgruppe der Polizei unter Leitung des Direktors der Polizei bei der Bezirksregierung integriert.
Aus Anlass der geplanten Auflösung der Bezirksregierungen hat das Ministerium für Inneres und Sport eine Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Umorganisation der Polizei eingesetzt, die am 15. November 2003 ihren Abschlussbericht Herrn Minister Schünemann zugeleitet hat. Der Bericht empfiehlt unter anderem, die bisherigen Aufgaben der Bezirksregierungen als obere Versammlungsbehörden in speziellen Dezernaten der künftigen sechs Polizeidirektionen wahrzunehmen. Dieser Vorschlag bedeutet, dass die unteren kommunalen Versammlungsbehörden ihre Zuständigkeit uneingeschränkt behalten. Die Fachaufsicht, die derzeit von Verwaltungsbediensteten in der Regel innerhalb der Dezernatsgruppe Polizei bei den Bezirksregierungen erledigt wird, soll auf die insoweit vergleichbaren Polizeidirektionen verlagert werden. Hinzu kommt, dass die beiden bisherigen Polizeidirektionen Hannover und Braunschweig bereits seit über 50 Jahren untere Versammlungsbehörden sind, wobei auf dem Gebiet der Landeshauptstadt ein herausragendes Versammlungsgeschehen stattfindet. Von einem Weg in den "Polizeistaat" kann also keine Rede sein.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Lennartz (GRÜNE) namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1:
Auf Grund der geplanten Auflösung der Bezirksregierungen ist es notwendig, deren fachaufsichtliche Aufgaben im Versammlungsrecht, die nicht entfallen können, auf andere Behörden zu übertragen. Die vom Ministerium für Inneres und Sport eingesetzte Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Umorganisation der Polizei empfiehlt in ihrem Abschlussbericht die Verlagerung dieser Aufgaben auf die künftigen sechs Polizeidirektionen.
Zu 2:
Der organisatorische Aufbau der künftigen Polizeidirektionen wird die einsatzführenden Bereiche der Polizei und die Verwaltungstätigkeiten voneinander trennen, so dass versammlungsrechtliche Entscheidungen und taktische Einsatzplanungen in verschiedenen Verantwortlichkeiten liegen. In den Bezirksregierungen führen derzeit Angehörige des allgemeinen Verwaltungsdienstes die fachaufsichtlichen Aufgaben in der Regel bereits in der Dezernatsgruppe Polizei unter Leitung des Direktors der Polizei bei der Bezirksregierung aus. Zu den in der Anfrage befürchteten Fehlentwicklungen ist es dabei nicht gekommen. Die Aufgabenwahrnehmung in den künftigen Polizeidirektionen des Landes würde daher dem aktuellen Organisationsgefüge im Wesentlichen entsprechen.
Zu 3:
Die Kooperation mit dem Veranstalter erfolgt weiterhin durch die unteren Versammlungsbehörden, die über eventuelle Versammlungsverbote und –beschränkungen zu entscheiden haben. Die Bezirksregierungen, deren Aufgabe verlagert werden soll, führen nur dann Kooperationsgespräche, wenn sie im Ausnahmefall vom Selbsteintrittsrecht nach § 102 NGefAG Gebrauch machen. Die in diesem Zusammenhang erforderliche Abstimmung des allgemeinen Verwaltungspersonals auch mit dem unmittelbaren Polizeibereich ändert sich nicht wesentlich, wenn sie künftig unter dem Dach der Polizeidirektionen erfolgt.