Einsatz von Brechmitteln
Sitzung Niedersächsischer Landtag am 31.10.2003; Fragestunde Innenminister Schünemann beantwortet Mündliche Anfrage des Abg. Dr. Lennartz (GRÜNE) Es gilt das gesprochene Wort!
Der Abgeordnete hatte gefragt:
Polizeibekannten Drogendealern in Hannover und anderen niedersächsischen Städten sollen künftig verstärkt zwangsweise Brechmittel verabreicht werden, wenn sie kurz vor einer Festnahme Rauschgift schlucken oder dies auch nur den Anschein hat. Der Minister verspricht sich von dem Vorstoß eine "effektivere Bekämpfung der Drogenkriminalität". Nach Intervention von Minister Schünemann sollen die strengen Regelungen zum Brechmitteleinsatz gelockert werden. Nun genügen bereits kleinere Drogenmengen, die polizeibekannte Dealer, die beim Drogenhandel beobachtet werden, schlucken. Diese Maßnahme bedeutet eine große Belastung nicht nur für den betroffenen Beschuldigten, sondern auch für die beteiligten Polizeibeamten und Ärzte. Der Einsatz kann nur unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angeordnet werden. Es stellt sich die Frage, ob das Abwarten der Polizei, bis das Geschluckte auf natürlichem Weg wieder zum Vorschein kommt, nicht den Zielen gerechter wird.
Ich frage die Landesregierung:
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Wie begründet sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beim Brechmitteleinsatz, der nun auch schon bei kleineren Drogenmengen polizeibekannter Drogendealer angeordnet werden soll, unter Berücksichtigung der damit verbundenen Belastungen für alle Beteiligten?
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Wie will sie die Durchführung der Brechmittelverabreichung sicherstellen, obwohl der Einsatz von Brechmitteln ohne Einwilligung des Betroffenen aus ärztlicher Sicht nicht vertretbar ist und der 105. Ärztetag im Mai 2002 sich gegen den Einsatz von Brechmitteln ausgesprochen hat?
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Wie beurteilt sie die Zweckmäßigkeit des ausgeweiteten Einsatzes von Brechmitteln, obwohl Fachleute darlegen, dass dieser dazu beitragen kann, dass sich die offenen Drogenszenen weiter in die Stadtteile zurückziehen oder gar in den privaten Raum verschwinden und so für präventive und schadensminimierende Maßnahmen nahezu unerreichbar sind?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Mündliche Anfrage wie folgt:
zu 1.:
Rechtsgrundlage für die Verabreichung von Brechmitteln zur Sicherstellung von verschluckten Behältnissen mit illegalen Betäubungsmitteln ist § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO.
§ 81a StPO lässt zur Feststellung von Tatsachen, die für das Verfahren von Bedeutung sind, unter bestimmten Voraussetzungen Untersuchungen und körperliche Eingriffe beim Beschuldigten zu. Wie bei allen staatlichen Eingriffen in Grundrechte ist dieser nur unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Deshalb darf die Maßnahme nur dann angeordnet werden, wenn sie geeignet und zugleich erforderlich ist, um den Tatverdacht zu erhärten. Ferner muss sich der körperliche Eingriff in angemessener Relation zur Schwere der Tat befinden und durch die Stärke des bestehenden Tatverdachts gerechtfertigt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Mittel, Zweck, Methode, Ziel, Stärke des Eingriffs und Gemeinwohlnutzen ist mit Verfassungsrang ausgestattet. Er verlangt, dass eine Maßnahme unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalles geeignet und erforderlich ist und nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts steht. Diese Abwägung hat sich am Einzellfall zu orientieren.
Zwischen den niedersächsischen Staatsanwaltschaften und der Polizei sind hinsichtlich der Anwendung von Brechmitteln Regelungen vereinbart worden, die für den Bereich der Polizeidirektion Hannover bzw. der Staatsanwaltschaft Hannover Anlass zur Korrektur gaben. In einer einschlägigen Behördenverfügung der Polizeidirektion Hannover waren staatsanwaltschaftlich abgestimmte Eingangsvoraussetzungen aufgestellt worden, die weder kriminalistisch sinnvoll noch gesetzlich gefordert waren. Der Beibehalt dieser Verfügung hätte in der Konsequenz bedeutet, dass ein Brechmitteleinsatz faktisch, auch bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen, unmöglich gewesen wäre. Auf Bitten meines Hauses ist die Verfügung mittlerweile geändert worden. Sie sieht nunmehr vor, dass geprüft werden kann, eine staatsanwaltschaftliche /richterliche Anordnung eines Brechmitteleinsatzes zu beantragen, wenn der Tatverdächtige bei Dealverhandlungen beobachtet wird, des Verschluckens von BtM-Behältnissen verdächtigt wird, über ihn einschlägige polizeiliche Erkenntnisse vorliegen und ansonsten ein Nachweis des Handelns nicht möglich ist.
Die Landesregierung hat keine Zweifel daran, dass die zur Anordnung Befugten bei der Prüfung dieser Voraussetzungen den oben dargestellten Abwägungsprozess zur Verhältnismäßigkeit in jedem Einzelfall pflichtgemäß vornehmen. Dabei ist hinsichtlich der Schwere des Eingriffs insbesondere zu berücksichtigen, dass das in Niedersachsen allein verabreichte Brechmittel Apomorphin aus medizinischer Sicht bei Einhaltung entsprechender medizinischer Rahmen-bedingungen medizinisch unbedenklich ist (s. auch Antwort zu Frage 2).
zu 2.:
Der 105. Deutsche Ärztetag hat in einem förmlichen Beschluss die Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass die Vergabe von Brechmitteln an mutmaßliche Drogenhändler zum Zwecke der Beweismittelsicherung ohne Zustimmung des Betroffenen ärztlich nicht zu vertreten sei. Das gewaltsame Einbringen von Brechmitteln mittels einer Magensonde stelle ein nicht unerhebliches gesundheitliches Risiko dar.
Der Ärztetag führte zur Begründung an, dass nach § 81a der Strafprozessordnung (StPO) Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken zwar vorgenommen werden könnten, sie seien aber nur dann gegen den Willen des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.
Die in Niedersachsen seit dem 19.07.2002 gültige Erlasslage sieht die zwangsweise Verabrei-chung von Brechmitteln via Magensonde wegen medizinischer Bedenken dieser Applikationsform, die die Landesregierung teilt, eben gerade nicht vor. Nach dem Ergebnis der Anhörung medizinischer Sachverständiger im Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen am 06.06.2002 im Niedersächsischen Landtag lässt der o.a. Erlass bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzung einer entsprechenden staatsanwaltschaftlichen bzw. richterlichen Anordnung lediglich die zwangsweise Anwendung von Apomorphin zu. Dieses Mittel wird gespritzt und derzeit, soweit entsprechende medizinische Rahmenbedingungen eingehalten werden, sowohl in der Wirkung als auch in der Applikationsform als medizinisch unbedenklich eingestuft.
Insofern ist Niedersachsen von der o.a. Resolution des Ärztetages gar nicht betroffen.
In Niedersachsen stehen den Strafverfolgungsbehörden in ausreichender Anzahl medizinische Einrichtungen, in denen ein Brechmitteleinsatz möglich ist, zur Verfügung.
zu 3.:
Strafverfolgende Maßnahmen gegen die Rauschgift-Szene im öffentlichen Verkehrsraum führen zu -zum Teil auch gewollten- Verdrängungseffekten; darauf hat sich die Polizei durch einen flexiblen Einsatz eingestellt. Niemand käme aber deshalb auf die Idee -schon aus Gründen der Generalprävention- auf strafverfolgende Maßnahmen zu verzichten. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein offensiv werbender, möglichst viele Kunden und Neukunden erreichender Handel mit Betäubungsmitteln nach wie vor im öffentlichen Raum stattfindet.
Der behauptete "Rückzug" in geschützte und private Umgebungen mag zwar im Einzelfall nicht von der Hand zu weisen sein, allerdings belegen Ermittlungs- und Sicherstellungserfolge der Polizei sowohl in der sog. offenen Szene als auch im privaten Bereich (sog. Dealerwohnungen) die Effektivität der Strafverfolgung.
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