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Versammlungsrecht

Sitzung des Niedersächsischen Landtages; Fragestunde Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Lennartz (Die Grünen)


Der Abgeordnete hatte gefragt:

Am 23. Mai 2003 fanden in Hannover sowohl eine Demonstration der VVN als auch eine Demonstration der NPD statt. Nachdem die ca. 1 500 Teilnehmer der VVN-Demonstration ihren Zielort, den Steintorplatz, erreicht hatten, löste sich diese Demonstration auf, die meisten der Demonstranten machten sich auf den Heimweg. Zu diesem Zeitpunkt war die Polizei noch am Aegi damit beschäftigt, die ca. 120 Demonstranten der NPD mit einem enorm hohen Polizeiaufkommen zu "schützen". Viele Passanten, Einkaufende, friedliche VVN-Demonstranten auf dem Heimweg, Kinder und Menschen, die in der Gegend wohnen, wurden dabei von der Polizei eingekesselt, nach und nach in Gewahrsam genommen und erkennungsdienstlich behandelt. Ein junges Mädchen wurde durch Tritte eines Polizeipferdes schwer verletzt. Die offensichtlich im Wesentlichen unbeteiligten Passanten, Schaulustige und Menschen, die von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch gemacht hatten, wurden von der Polizei in einem Gefängnisbus auf den Hinterhof der Polizeidirektion in der Waterloostraße verbracht, wurden erneut erkennungsdienstlich behandelt und nach einem Platzverweis entlassen. Die gesamte "Gefahrenabwehrmaßnahme" dauerte mehrere Stunden, in denen die in Gewahrsam genommen Personen ohne Wasser und Verpflegung bei hohen Temperaturen "behandelt" wurden. Während Bürgerinnen und Bürger aus Hannover gefangen gehalten wurden, konnten NPD-Demonstranten unbehelligt von der Polizei staatsfeindliche Parolen skandieren.

Ich frage die Landesregierung:

1.Aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen wurden die Personen dieser Gruppe für den genannten Zeitraum festgehalten?

2.Gegen wie viele dieser Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet?

3.Wie bewertet die Landesregierung unter dem Gesichtspunkt bürgerorientierter Polizeiarbeit die Einkesselung offensichtlich Unbeteiligter?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Mündliche Anfrage wie folgt:

Der NPD-Landesverband meldete für den 24.05.2003 eine Demonstration in der Innenstadt von Hannover an. Parallel dazu wollte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) einen Aufzug durchführen.

Um ein Aufeinandertreffen der Gruppen zu verhindern, wurden beiden Organisationen Auflagen erteilt, die verwaltungsgerichtlich geprüft und bestätigt wurden.

Zu den Ereignissen anlässlich der beiden Veranstaltungen hat die Polizeidirektion Hannover dem Ministerium für Inneres und Sport berichtet. Danach stellte sich die Sachlage wie folgt dar:

Während der Einsatzvorbereitung musste die Polizeidirektion Hannover auf Grund vorliegender Erkenntnisse von der Teilnahme von etwa 100 bis 150 Personen ausgehen, die anlässlich der friedlichen Versammlung VVN/BdA rechtswidrige Handlungen gegen den Aufzug der NPD be-gehen würden. Die bei früheren Veranstaltungen, am 19.12.1998 in Hannover, am 19.10.2002 in Hildesheim und am 01.05.2003 in Göttingen, gezeigten Verhaltensweisen ließen für den Einsatz-tag gefährdende Ereignisse in Form unmittelbarer Konfrontationen gegen die NPD-Versammlung und eines Vorgehens gegen die zur Verhinderung dieser Auseinandersetzung eingesetzten Po-lizeibeamtinnen und Polizeibeamten erwarten. Die Polizeidirektion Hannover hatte sich entspre-chend auf eine eventuell erforderliche Ingewahrsamnahme gewaltbereiter Personen vorbereitet.

Bis zum Abend des 23.05.2003 hatte sich die Prognose auf eine mögliche Teilnahme von 200 – 250 gewaltbereiten Personen aus dem autonomen Spektrum verdichtet. Störungen waren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

Am Veranstaltungstage wurde während des laufenden VVN/BdA-Aufzuges bekannt, dass dieser frühzeitig im Bereich Hauptbahnhof aufgelöst werden sollte. Durch weitere Aufklärungsmaßnah-men wurde diese Information dahingehend konkretisiert, dass die vorgesehene Zwischenkund-gebung am Andreas-Hermes-Platz gleichzeitig auch als Abschluss vorgesehen war. Das Einsickern von Teilnehmern in Kleingruppen in den Veranstaltungsbereich der NPD wurde geplant. Dieses wurde durch die Präsenz starker Polizeikräfte verhindert. Die Zwischenkundgebung wurde vom Versammlungsleiter nicht durchgeführt, die Abschlusskundgebung fand am Steintor statt. Dort wurde die genaue Aufzugsroute der NPD nochmals detailliert verlesen und der Versammlungs-leiter rief die Teilnehmer zu einen "phantasievollen" Nachmittag auf. Ein anderer Redner hatte schon während der Auftaktkundgebung am Emmichplatz darauf hingewiesen, dass die Teilnehmer kämpferisch und offensiv sein sollten. Bereits vor Beginn der VVN/BdA-Veranstaltung hatten 20 dem linken Spektrum zuzuordnende Personen die Auseinandersetzung mit im Hauptbahnhof ankommenden Teilnehmern der NPD-Veranstaltung gesucht. Aus dem VVN/BdA-Aufzug heraus wurden die Dienstpferde der Begleitkräfte mit einem Flaschenwurf und einzelnen Feuerwerks-körperwürfen angegangen. Schon vor Beginn des NPD-Aufzuges wurden durch Polizeikräfte am Aufzugsweg der NPD Personen mit Störabsichten festgestellt, die zum Teil Schutzwaffen und sogenannte K.O.-Sprays mitführten.

Um Ingewahrsamnahmen zu vermeiden, wurde zunächst als milderes Mittel versucht, durch Sperrmaßnahmen am Ernst-August-Platz die Gefahr für die Versammlung der NPD abzuwehren.

Als der Aufzug diese Stelle erreichte, versuchten Teilnehmer der Aufzugsspitze, in der sich u.a. Personen aus der militanten autonomen Szene befanden, die Aufzugstrecke Richtung Innenstadt zu verlassen, was mit Abdrängmaßnahmen verhindert wurde.

Durch das Errichten einer Absperrlinie im nördlichen Bereich der Innenstadt sollte verhindert werden, dass gewaltbereite Personen den Aufzugsweg der NPD erreichen könnten.

Dennoch sammelten sich im Bereich Aegi/Georgstraße zunächst 20 – 30 Autonome. Diese Gruppe erhielt dann starken Zulauf und wuchs bis auf über 350 Personen an. Innerhalb dieser Ansammlung vermummten sich ca. 100 Personen. Vorbereitungen zum Einnehmen einer Sitz-blockade wurden getroffen, woraufhin starke Einsatzkräfte zum Ort entsandt wurden. Die Menge wurde aufgefordert, den Aegi zu verlassen, um so den Weg für den NPD-Aufzug freizumachen. Dieser Weisung wurde nicht gefolgt, so dass die Ansammlung durch eine Polizeikette Richtung Georgstraße abgedrängt werden sollte.

Dadurch, dass Störer durch die U-Bahn-Station Aegi in den Rücken der Polizeikette gelangten, musste diese verhalten, was dazu genutzt wurde, im Bereich Aegi/Georgsstraße die Sitzblockade einzunehmen. Nach der zweiten Aufforderung, diese zu beenden, kam es zu Flaschen- und Steinwürfen sowie Tritten gegen die Kräfte in der Polizeikette. Diese Blockade wurde auch nach der dritten Aufforderung nicht beendet. Da von einem zukünftig friedlichen Verhalten gegenüber den Teilnehmer der NPD-Versammlung und gegenüber den zu deren Schutz eingesetzten Polizeikräften nicht mehr ausgegangen werden konnte, erfolgte die Ingewahrsamnahme der Blockierer.

Im weiteren Verlauf erbrachte die polizeiliche Aufklärung, dass sich die gewaltbereite Personen-gruppe teilen und in kleinen Gruppen gegen die NPD agieren wollten, wobei als Treffpunkte Marktkirche und Kröpcke verabredet worden waren. Beim Vollziehen der Maßnahme verließen ca. 100 Personen den Aegi Richtung Breite Straße, ein anderer Teil entfernte sich Richtung Baring-straße. 285 Personen wurden im Bereich Georgsplatz / Georgstraße und 91 Personen in der Breiten Straße in Gewahrsam genommen. Die Gruppe von 91 Personen wurde vollständig, von den auf dem Georgsplatz / auf der Georgstraße eingeschlossenen Gruppe wurden zunächst 50 Personen dem Polizeigewahrsam zugeführt.

Eine zunächst ca. 30 Personen große Gruppe sammelte sich an der Ecke Osterstraße/Baring-straße. Diese wuchs innerhalb kürzester Zeit bis auf ca. 200 Menschen an. Hierdurch wurde die vorgesehene Aufzugsroute der NPD erneut blockiert.

Dabei wurden Flaschen und Eier gegen die Aufzugsteilnehmer geworfen. Die Blockierer brachten deutlich zum Ausdruck, dass der NPD-Aufzug "gesprengt" werden sollte. Teile der Blockierer begaben sich in das Parkhaus Osterstraße, um von dort auf den Aufzug einwirken zu können. Von dort wurden Steine auf die Einsatzkräfte geworfen. Damit setzte sich das auf dem Aegi begonnene und für den weiteren Verlauf angekündigte Verhalten fort. Aus diesem Grunde wurden 180 Per-sonen der Gruppe vor Ort in Gewahrsam genommen. 37 wurden dem Polizeigewahrsam zu-geführt, die anderen nach einer Identitätsfeststellung vor Ort entlassen, nachdem die NPD-Veran-staltung beendet worden war und die Teilnehmer die Heimreise antraten.

Das Verhalten der an den genannten Orten angetroffenen Personen, das zum Einen die eindeu-tige Verhinderungsabsicht des NPD-Aufzuges verdeutlichte und zum Anderen so ausgelegt war, dass der milderen Maßnahme des Platzverweises nicht nachgekommen wurde, machte eine Ingewahrsamnahme nach dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz erforderlich.

Bei allen Maßnahmen vor Ort bestand die Möglichkeit, dass sich Unbeteiligte und Kinder entfernen konnten. Dazu wurden mehrfach entsprechende Lautsprecherdurchsagen veranlasst bzw. wurden die in Frage kommenden Personen direkt befragt und dann entlassen.

Die Erkenntnislage vor dem Einsatz hatte ergeben, dass sich die Polizeidirektion auf eine Gewahr-samnahme von ca. 150 bis 200 gewaltbereiten Personen vorbereiten musste. Dieses wurde mit dem Aufbau eines Polizeigewahrsams auf dem Gelände des Dienstgebäudes Waterloostraße sowie auf dem Hanomag-Gelände umgesetzt. Entsprechende Transportkapazitäten waren bereitgestellt. Die Versorgung der in das Gewahrsam eingelieferten Personen war gesichert.

Im Bereich Osterstraße war eine Versorgung auf Grund der Kürze der Maßnahme nicht vorgesehen und auch nicht erforderlich.

Weitere Zuführungen aus dem Bereich Georgsplatz waren nach dem Freiwerden entsprechender Transportkapazitäten geplant. Aufgrund der Vielzahl von Ingewahrsamnahmen entstanden aber unvermeidbare Verzögerungen. Um den Zeitraum des Gewahrsams zu verkürzen und so die Personen frühestmöglich wieder entlassen zu können, wurden aus Gründen der Verhältnismä-ßigkeit die Redezeiten für die NPD, und damit die gesamte Veranstaltungslänge, erheblich eingeschränkt. Das führte dazu, dass die in Gewahrsam genommene Personengruppe nach Wegfall des Grundes und nach einem beschleunigten Identitätsfesstellungs-Verfahren vor Ort entlassen wurden. Die Ingewahrsamnahme begann gegen 13.15 Uhr und dauerte bis ca. 18.00 Uhr. Ab 17.00 Uhr wurde mit dem beschleunigten Identitätsfesstellungs-Verfahren begonnen.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren Versorgungswünsche an den Einsatzleiter vor Ort nicht heran-getragen worden. Grund hierfür dürfte gewesen sein, dass eine Vielzahl von Personen über selbst mitgebrachte Getränke verfügte.

Zu der Behauptung, dass während der Demonstration am Aegi ein Mädchen durch den Tritt eines Polizeipferdes verletzt worden sei, hat die Polizeidirektion Hannover mitgeteilt, dass um 13.15 Uhr ein Notarztwagen zum Aegi gerufen wurde. Die Notarztwagenbesatzung des medizinischen Dienstes der Polizeidirektion Hannover fand dort am Boden liegend eine junge Frau vor, die vor Schmerzen anhaltend schrie. Als Ursache für die Verletzung gaben Personen, die sich bei dem Mädchen aufhielten, an, dass dieses geschubst und getreten worden sei.

Dass die Verletzung durch den Tritt eines Polizeipferdes verursacht worden sei, wurde dem Polizeiarzt gegenüber nicht erwähnt, auch gab das Verletzungsbild keine Hinweise auf eine der-artige Ursache. Darüber hinaus berichtete die Polizeidirektion Hannover, dass zu dem Zeitpunkt als sich das Mädchen verletzte, Polizeipferde nicht unmittelbar am Ereignisort eingesetzt waren.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen des Abg. Dr. Lennartz namens der Landes-regierung wie folgt:

Zu 1.:

Siehe Vorbemerkungen

Zu 2.:

Zur Zeit sind 52 Straf- und ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden. Darüber hinaus wurden vier Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz festgestellt.

Im Wesentlichen beziehen sich die Tatvorwürfe auf die Tatbestände

-Landfriedensbruch

-gefährliche bzw. einfache Körperverletzung

-Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte

-Verstöße gegen das Waffengesetz

-Verstöße gegen das Versammlungsgesetz

Gegen Personen, die an den Orten Osterstraße, Georgsplatz und Breite Straße in Gewahrsam genommen worden waren, sind zur Zeit acht Verfahren anhängig. Diese Zahl wird sich nach Auswertung des Beweissicherungsmaterials, insbesondere von jenem, welches von den im Bereich Georgsplatz eingesetzten Polizeikräften gefertigt wurde, voraussichtlich erhöhen. Hierzu müssen jedoch zunächst die notwendigen Identifizierungen vorgenommen werden.

Zu 3.:

Entfällt, da Unbeteiligte nicht Adressaten von Ingewahrsamnahmen waren. Im Übrigen siehe Vorbemerkungen.

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