Reaktion der Landesregierung auf die zunehmende Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 11.11.2011; Fragestunde Nr. 1
Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die mündliche Anfrage der Abgeordneten Heinz Rolfes, Fritz Güntzler, Thomas Adasch, Johann-Heinrich Ahlers, Ansgar Focke, Rudolf Götz, Bernd-Carsten Hiebing, Angelika Jahns und Frank Mindermann (CDU)
Die Abgeordneten hatten gefragt:Die Ausschreitungen und die Gewaltbereitschaft rund um das eigentliche Fußballspiel haben in der Vergangenheit stark zugenommen. So war der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom
1. November 2011 zu entnehmen, dass die Zahl der gewaltgeneigten und gewaltsuchenden Fußballfans der 36 Profivereine in Deutschland auf annähernd 10 000 Personen angestiegen sei. Die Zahl der verübten Körperverletzungen bei Bundesligaspielen habe um 9,2 % zugenommen.
Längst gehe es nach dem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung nicht lediglich um Gewalt unmittelbar im Stadion. So berichtet die Zeitung von Fällen, in denen ein Fußballspieler des 1. FC Magdeburg zuhause von vermummten Personen besucht wurde oder vermummte Fans beim Spiel Hannover 96 gegen Lüttich aus dem Gebüsch preschten, um gegnerische Fans und Polizisten zu bedrohen und anzugreifen. Der Sportdirektor des Deutschen Fußballbundes, Matthias Sammer, fühle sich in der Frage überfordert, wie man den Fankrawallen begegnen könnte. Die Gewalt beginnt mit Anreise der Fans und setzt sich unabhängig vom eigentlichen Fußballspiel weiter fort. Die Deutsche Presseagentur sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer neuen Welle der Gewalt.
Wir fragen die Landesregierung:
- Wie beurteilt sie die gestiegene Gewaltbereitschaft von vermeintlichen Fußballfans?
- Welche Maßnahmen hat die Landesregierung ergriffen und welche Maßnahmen wird die Landesregierung ergreifen, um der Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen aller Ligen zu begegnen?
- Wie können die Fußballvereine und die Fangruppierungen mit dem Land Niedersachsen effektiv auf die gewaltbereiten Gruppierungen und Fans reagieren?
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Anfrage wie folgt:
Fußballveranstaltungen bergen in besonderem Maße hohe Konfliktpotenziale, denen Verbände, Veranstalter, Polizei und Kommunen auf der Grundlage des Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit (NKSS) in enger Kooperation begegnen.
Die vielfältigen Handlungsfelder im NKSS und daraus resultierenden Konzeptionen haben wesentlich zu einer Befriedung bei Fußballveranstaltungen, soweit es den Spielbetrieb im engeren Sinne und die Innenbereiche der Stadien angeht, vor allem in den Bundesligen beigetragen.
Der Fußballsport hat gleichwohl unverändert einen Fanhintergrund, der für Gewalttäter in besonderer Weise attraktiv ist und es sind insoweit immer wieder Fußballveranstaltungen, die von Gewalttätern gezielt für ihre Zwecke missbraucht werden. Angesichts konsequenter Fantrennung und hohem Kontrolldruck innerhalb der Stadien weichen diese zunehmend auf das weitere Stadionumfeld, die Vor- und Nachspielphase sowie die Reisewege oder Drittorte aus.
Neben typischen, häufig alkoholbedingten Gewaltproblemen fokussiert sich das Gewaltphänomen bei Massenveranstaltungen auf der einen Seite auf den klassischen Hooliganismus und auf der anderen Seite auf die seit Ende der 90er Jahre aufkommenden Ultrabewegungen.
Hooligangewalt ist dabei in der Typologie der Täter als ein Mittel zur Schaffung positiver Identität und zur Stärkung des Selbstbewusstseins angelegt.
Gewalt von Personen der Ultraszene ist dagegen überwiegend reaktiv angelegt. Reaktiv insoweit, als sich die Gewalt vor allem gegen Ordnungsdienste, den Verein sowie die gegnerische Fanszene und mehr noch gegen die Polizei richtet. Die bloße Anwesenheit geschlossener Polizeieinheiten wird als Provokation empfunden.
Einsatzmaßnahmen, wie Fanbegleitungen und ein Einschreiten von Polizei und Ordnungsdiensten innerhalb des Stadions in den Fankurven steigern das aggressive Verhalten zusätzlich und führen nicht selten zu einem hohen Solidarisierungseffekt. Eine Kooperation und der Dialog mit Ordnungsdiensten und Polizei werden dabei weitgehend von den gewaltbereiten Ultraszenen abgelehnt und selbst die Kooperation und Kommunikation mit Fanbeauftragten der Vereine und Fanprojekten ist zunehmend gestört.
In diesem Zusammenhang fallen regelmäßig Einzelpersonen auf, die in diesem Sinne gezielt auf Gruppierungen steuernd einwirken und hierbei hooligantypische Verhaltensweisen zeigen bzw. organisieren.
Eine aktuelle Problematik bildet der Umgang mit Pyrotechnik im Zusammenhang mit Fußballspielen. In Teilbereichen der Ultraszenen gewinnt die Verwendung von Pyrotechnik innerhalb der Spielstätten in der Unterstützung für die Mannschaften eine zunehmende Bedeutung.
Der kürzlich von der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) in Nordrhein-Westfalen veröffentlichte Jahresbericht Fußball 2010/2011 sagt aus, dass trotz der vielfältigen Maßnahmen gegen Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen ein spürbarer Rückgang in diesem Phänomenbereich nicht festzustellen ist.
In den Bundesligen hat die Zahl der Körperverletzungsdelikte im Vergleich zur Vorsaison um 133 auf 1.572 Fälle zugenommen, die Zahl der Verletzten erhöhte sich auf 846 Personen, darunter 243 Polizeibeamte und 344 Unbeteiligte.
In Niedersachsen ist bei den verletzten Personen eine vergleichbare Entwicklung festzustellen. Anlässlich der Begegnungen der Bundesligisten Hannover 96 und VfL Wolfsburg wurden 41 Personen verletzt, 19 Verletzte mehr als in der Vorsaison.
Das Gewaltpotenzial in den Anhängerschaften der Vereine von der Bundesliga bis zu den Regionalligen wird bundesweit mit ca. 14.900 Personen (Vorjahr 14.708) beziffert. Eine Trendwende ist nicht erkennbar.
Dem gegenüber nahm das Gewaltpotenzial in Niedersachsen nach Einschätzung der niedersächsischen Polizeibehörden in der letzten Saison jedoch leicht ab und betrug 1.324 Personen nach 1.458 Personen in der Saison 2009/2010.
Dies vorangestellt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu Frage 1:
Die bundesweit erkennbare veränderte Qualität der Gewalt gibt Anlass zu Besorgnis.
Beispiele hierfür sind aus niedersächsischer Sicht der Angriff von Gewalttätern auf einen Zug mit Fans von Hannover 96 im Haltepunkt Weddel am 7.11.2009 sowie die Vorkommnisse zwischen Ultras von Hannover 96 und dem VfL Wolfsburg vor dem Bundesligaspiel am 5.2.2011 in Hannover.
Am 5.2.2011 hatten sich in Hannover ca. 140 Wolfsburger gewaltbereite Ultras unter einer Legende am frühen Vormittag des Spieltages in einer hannoverschen Altstadtlokalität eingemietet und wurden dort von ca. 50 gewaltbereiten Hannoveraner Ultras angegriffen. Nur durch den rechtzeitigen Einsatz der Polizei konnten schwerwiegende Auseinandersetzungen verhindert werden.
Bei gewaltbereiten Personen in den Ultragruppierungen ist mittlerweile die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung, gerade auch gegenüber Polizei und Ordnungsdienst, niedrig. Die latent vorhandene Aggressionsbereitschaft ist vielfach noch durch einen übermäßigen Alkoholkonsum verstärkt.
Vermehrt zu Gefahren für alle Anwesenden in den Fußballstadien und auf den Reisewegen führt der zunehmende Einsatz von Pyrotechnik. Durch die Verwendung von pyrotechnischen Materialien kommt es regelmäßig zur Gefährdung von Personen sowie Verletzungen von Menschen und zu Sachschäden.
Im Übrigen siehe Vorbemerkung.
Zu den Fragen 2 und 3:
Die Landesregierung hat eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um der Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen zu begegnen.
Die Innenministerkonferenz (IMK) und der Deutsche Fußballbund (DFB) bzw. die Deutsche Fußball Liga (DFL) befassen sich seit mehreren Jahren sehr intensiv mit der Problematik.
Ab Dezember 2009 habe ich an mehreren Gesprächen mit dem Bundesinnenminister, Vertretern der IMK, der Sportministerkonferenz (SMK), des Nationalen Ausschusses Sport und Sicherheit sowie des DFB und der DFL teilgenommen, in denen eine gemeinsame Strategie gegen Gewalt im Fußball erarbeitet wurde. Diese beinhaltet Maßnahmen insbesondere der Fanarbeit und Frühprävention, der Untersuchung und Analyse von Fanverhalten, der Ächtung von Gewalt, der Verbesserung der Sicherheit auf den Reisewegen und der Reduzierung des Alkoholkonsums im öffentlichen Personenverkehr sowie des Abbaus von Einsatz-Belastungsspitzen der Polizei durch Entzerrung der Spielpläne.
Diese Maßnahmen sind zwischenzeitlich zum Teil bereits abgeschlossen. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen:
- Projekt TU Darmstadt zu Sicherheitsmaßnahmen im Fußball
- Beteiligung der Polizeien der Länder und des Bundes an der Spieltagsplanung für Fußballspiele.
- Erarbeitung einer Rahmenkonzeption für den bundesweit einheitlichen Umgang mit Fangruppen sowie gewaltbereiten Personen
- Forderung nach einem Verbot von Alkoholkonsum im öffentlichen Personenverkehr
Am 14. November findet in Berlin im Bundesinnenministerium die Fortsetzung des Runden Tisches vom 23. April letzten Jahres mit Spitzenvertretern der IMK, der SMK sowie des DFB und der DFL statt.
Dort werde ich weitergehende Maßnahmen für mehr Sicherheit bei Fußballspielen anregen.
Ein zentrales Element bilden hierbei die Vorschläge zur Neuregelung im Bereich der Stadionverbote. Örtliche und insbesondere bundesweit wirksame Stadionverbote sind ein geeignetes Mittel, gewaltbereite Fußballanhänger aus den Stadien zu verbannen.
Nach aktuellen Erkenntnissen werden lediglich in zehn bis zwanzig Prozent der möglichen Fälle Stadionverbote geprüft bzw. festgesetzt. Verantwortlich für die Stadionverbote ist der jeweilige Heimverein.
Diese Aufgabe sollte einer neutralen Stelle z.B. DFB / DFL übertragen werden.
Daneben werde ich für eine Rücknahme der Senkung der Höchstdauer von Stadionverboten auf 3 Jahre und für die Option einer Verlängerung um 2 Jahre bei entsprechender Gefahrenprognose eintreten.
Personen, die in Fußballstadien nur Gewalttaten begehen wollen, haben dort nichts zu suchen.
Eine weitergehende Qualifizierung der Ordnungsdienste im Rahmen der Zertifizierung von Sicherheitsdiensten und eine quantitative sowie qualitative Verbesserung der Videoüberwachung in den Fußballstadien halte ich ebenfalls für zielführend.
Aber auch wir in Niedersachsen haben bereits wesentliche Schritte unternommen.
Nach Feststellung teilweise gewalttätigen Fanverhaltens auch bei Fußballspielen unterhalb der Lizenzligen im Jahr 2006 hat das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (MI) gemeinsam mit dem Präsidenten des Niedersächsischen Fußballverbandes (NFV) im Dezember 2006 eine Kommission Sport und Sicherheit sowie unterhalb dieser einen Ausschuss Sport und Sicherheit eingerichtet.
Seit der Saison 2008/2009 ist darüber hinaus eine durch den Niedersächsischen Ausschuss Sport und Sicherheit erarbeitete landesweite Rahmenkonzeption in Kraft, welche die in den Fußball-Profiligen bewährten Maßnahmen und Standards lageangepasst auf die niedersächsischen Amateurligen ausweitet. Für Spiele der Amateurligen, bei denen aufgrund besonderer Erkenntnisse ein erhöhtes Risiko von Ausschreitungen anzunehmen ist, gelten danach analoge Anforderungen und Abläufe wie für Spiele der Lizenzligen.
Neben der konsequenten Anwendung der bereits erwähnten Rahmenkonzeption für den bundesweit einheitlichen Umgang mit Fangruppen sowie gewaltbereiten Personen wird in Niedersachsen in Kürze ein spezielles Handlungskonzept gegen Rädelsführer gewaltbereiter Gruppierungen umgesetzt, mit dem gezielt diese Personen an den Spieltagen isoliert und von den Fußballveranstaltungen ferngehalten werden sollen.
Weiterhin setzt sich die Landesregierung dafür ein, ein Alkoholkonsumverbot flächendeckend im Öffentlichen Personenverkehr einzuführen.
Daneben wird auf befristete Beförderungsausschlüsse von gewalttätigen Fußballanhängern durch die Eisenbahnverkehrsunternehmen hingewirkt.
Niedersachsen hat auch den Dialog mit Fangruppierungen, vor allem der Ultra-Bewegung, forciert. Im Januar 2010 wurde in diesem Zusammenhang die Niedersächsische Zukunftswerkstatt „Fußballfans und Polizei - Abbau der Feindbilder“ in Hannover durchgeführt. Daraus resultierend sind Runde Tische mit Vertretern der örtlichen Polizeidienststellen sowie der unterschiedlichen Fangruppierungen eingerichtet worden, in denen erste Gesprächskontakte auf örtlicher Ebene hergestellt werden konnten und regelmäßig fortgesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist aber auch zu erwähnen, dass es Vertreter von Ultragruppierungen gibt, die diesen Dialog verweigern.
Ferner unterstützt die Niedersächsische Landesregierung die wichtige Arbeit der Fanprojekte. Neben den bereits länger bestehenden Fanprojekten an den Standorten Hannover, Braunschweig und Wolfsburg ist am 1. Juli 2011 in Osnabrück das bundesweit 50. Fanprojekt eingerichtet worden. Die Fanprojekte werden gemäß dem NKSS zu je einem Drittel finanziert durch den Fußballverband, die zuständige Kommune sowie das Land.
Hierfür werden aus Landesmitteln in diesem Jahr 121.400 Euro zur Verfügung gestellt.
Die Landesregierung wird die Vereine und Fangruppierungen in ihren Bemühungen weiter unterstützen. Dazu trägt auch der mit Wirkung vom 1. Dezember 2011 von der Landesregierung bestellte Beauftragte für Sicherheit im Fußball bei.