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Beantwortung der Mündl. Anfrage der GRÜNEN zu Flüchtlingen

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 13. Mai 2015; Fragestunde Nr. 7. Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport antwortet namens der Landesregierung auf die Mündl. Anfr. d. Abgeordneten Filiz Polat und Volker Bajus (GRÜNE) wie folgt:


Vorbemerkung der Abgeordneten

Aus Verzweiflung wegen seiner drohenden Abschiebung versuchte ein marokkanischer Flüchtling in Lingen, sich am 18. April 2015 durch Selbstverbrennung das Leben zu nehmen (Onlineausgabe der NOZ, 19. April 2015 http://www.noz.de/lokales/lingen/artikel/566833/drama-in-lingen-marok-kaner-ausser-lebensgefahr). Der Mann wurde anschließend mit schweren Verletzungen in eine Spezialklinik nach Gelsenkirchen verlegt.

Laut Zeitungsberichten drohte dem Flüchtling im Rahmen des Dublin-Verfahrens die Abschiebung nach Bulgarien. Zuvor hatte das zuständige Verwaltungsgericht Osnabrück trotz des ärztlichen Verdachts einer posttraumatischen Belastungsstörung eine Selbstmordgefährdung für nicht ersichtlich gehalten und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Der Hausarzt hatte bereits eine Reiseunfähigkeit diagnostiziert, weitere fachärztliche Untersuchungen sollten folgen.

Zudem kam das Gericht zu der Einschätzung, dass das bulgarische Asylsystem nicht unter systemischen Mängeln leide. PRO ASYL und andere Menschenrechtsorganisationen weisen jedoch seit Jahren auf die unzureichende Situation für Flüchtlinge in Bulgarien hin und verzeichnen einen Anstieg an erniedrigender und unmenschlicher Behandlung von Flüchtlingen bis hin zu Folter (PRO ASYL, Pressemitteilung vom 15. April 2015, „PRO-ASYL-Bericht: Schwere Misshandlungen von Flüchtlingen in Bulgarien“; Amnesty International, Pressemitteilung vom 30. Juli 2014, „keine Rücküberstellung Asylsuchender nach Bulgarien“). Auch der UNHCR fordert die Einstellung von Rücküberstellungen nach Bulgarien und beklagt das Vorhandensein systemischer Mängel (PRO ASYL, Pressemitteilung vom 23. Januar 2014, „Bulgarien: UNHCR bekräftigt Forderung nach Überstellungsstopp“).

Vorbemerkung der Landesregierung

Unabhängig von der ausländerrechtlichen Bewertung des Sachverhaltes möchte die Landesregierung ihr Mitgefühl ausdrücken und wünscht dem Mann eine baldige Genesung.

Alle EU-Mitgliedstaaten – auch Bulgarien – sind verpflichtet bei der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden und bei der Prüfung der Asylanträge die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu wahren und die Garantien der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren. Es ist sicher zutreffend, dass die Standards für die Unterbringung und Versorgung von anerkannten Flüchtlingen und für Asylsuchende in den 28 Mitgliedstaaten Unterschiede aufweisen und Bulgarien zu den Ländern gehört, in denen noch Handlungsbedarf besteht, um den angestrebten europäischen Standard zu erreichen.

Nach einer Information der Bundesregierung unternimmt Bulgarien gegenwärtig u.a. mit Hilfe des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) und in Kooperation mit dem UNHCR große Anstrengungen, um trotz der gestiegenen Flüchtlingszahlen die Anforderungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu gewährleisten. Die Maßnahmen zur Verbesserung des Aufnahmesystems, der Versorgung von schutzbedürftigen Personen, der Ausbildung und Qualifizierung neuer Kräfte für den Umgang mit Schutzsuchenden und der Registrierung von Schutzsuchenden haben nach den Erkenntnissen der Bundesregierung bereits deutliche Verbesserungen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen in Bulgarien bewirkt. Aus diesem Grund geht auch der UNHCR in seinem Bericht vom 15. April 2014 – „Bulgaria as a country of asylm“ – davon aus, dass Überstellungen nach Bulgarien nicht mehr grundsätzlich ausgesetzt werden müssen.

Aus diesen Gründen geht auch das hierfür ausschließlich zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) in seinen diesbezüglichen Entscheidungen bislang davon aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Bulgarien keine grundlegenden Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerberinnen oder Asylbewerber implizieren. Die Ausländerbehörden der Länder sind an die Entscheidungen des Bundesamtes gebunden und haben insoweit keine eigenen Entscheidungskompetenzen.

1. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung zum Suizidversuch des marokkanischen Flüchtlings vom 18. April 2015 in Lingen?

Der marokkanische Staatsangehörige, der nach eigenen Angaben am 8. September 2014 in das Bundesgebiet eingereist war, wurde dem Landkreis Emsland zugewiesen.

Mit Bescheid vom 28. Januar 2015 wurde ein gestellter Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet. Das Bundesamt stellte dabei die Unzulässigkeit des Asylantrages gem. § 27a AsylVfG fest, da Bulgarien aufgrund des dort gestellten Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 Buchstabe d Dublin III–VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Zusätzlich beschied das Bundesamt, dass keine außergewöhnlichen humanitären Gründe ersichtlich seien, die es veranlassen würden, das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III–VO auszuüben. Ferner wurde die Abschiebung nach Bulgarien gem. § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG angeordnet.

Im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens, das sich gegen die BRD, vertreten durch das Bundesamt, richtete, wurden der Vortrag des Antragstellers hinsichtlich seiner gesundheitlichen Situation sowie die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen mit dem Ergebnis gewürdigt, dass von einer eine Überstellung ausschließenden Erkrankung nicht ausgegangen werden könne. Somit war mit Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Abschiebungsanordnung vollziehbar.

Die Ausländerbehörde des Landkreises Emsland, die an die Entscheidungen des Bundesamtes gebunden ist, war damit verpflichtet, die Abschiebung zu vollziehen. Sie teilte dem Betroffenen mit Schreiben vom 09.04.2015 mit, dass die Rückführung nach Bulgarien für den 20. April 2015 terminiert sei. Einzelheiten über die in Aussicht genommene Rückführung wurden gleichfalls erläutert.

Am Freitag, den 17. April 2015, teilte die Rechtsvertretung der Ausländerbehörde mit, einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO gestellt zu haben.

Am Samstag, den 18. April 2015, kam es zu dem sehr tragischen Vorfall: Der abgelehnte Asylbewerber übergoss sich an einer belebten Kreuzung in Lingen vor den Augen eines Zeugen seine Hose mit Benzin aus einer Flasche und entzündete diese selbst mit einem Feuerzeug. Zuvor hatte er über Notruf selbst seinen Suizid angekündigt. Passanten rissen die im unteren Extremitätenbereich brennende Person zu Boden und versuchten das Feuer zu löschen. Die eintreffende Streifenbesatzung konnte letztlich durch Einsatz der Lederjacke und eines Feuerlöschers die Flammen ersticken. Der Betroffene wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, später aufgrund starker Verbrennungen in eine Spezialklinik ausgeflogen. An der Wohnanschrift wurde ein Schriftstück vorgefunden, indem eine derartige Aktion durch den Suizidenten binnen 48 Stunden angekündigt worden war.

Die Abschiebungsanordnung wurde zwischenzeitlich wegen der Ausübung des Selbsteintrittsrechts vom Bundesamt aufgehoben, wobei es allerdings bei der Ablehnung des Asylantrags verblieb. Der Betroffene gilt zurzeit gemäß § 71 a Abs. 3 AsylVfG als geduldet.

2. Was tut die Landesregierung, um bei einer ärztlich attestierten Reiseunfähigkeit und bei Verdacht auf Traumatisierung und Suizidgefahr fachärztliche Untersuchungen und Diagnosen innerhalb der einwöchigen Frist nach Erteilen des Abschiebungsbescheids zu gewährleisten?

Die zuständigen Behörden haben von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Im Rahmen der Verfahren auf Erlass einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG hat das Bundesamt die Voraussetzungen für die Durchführung einer Abschiebung zu prüfen. Dies gilt sowohl für sog. zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörden zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (s. BVerfG Beschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 939/14 –). Handelt es sich also um eine geltend gemachte Reiseunfähigkeit, die im Rahmen des bisherigen Verfahrens vom Bundesamtes bereits, gegebenenfalls – wie hier – auch gerichtlich, geprüft worden ist und eine Überstellung für möglich befunden wurde, haben die für den Vollzug zuständigen Ausländerbehörden bei unverändertem Sachverhalt keine Entscheidungskompetenzen.

Wurden die konkret geltend gemachten gesundheitlichen Einschränkungen noch nicht vom Bundesamt geprüft, nehmen die Ausländerbehörden hinreichend konkrete Hinweise (z.B. privatärztliche Atteste, wonach die Reisefähigkeit befristet oder unbefristet nicht gegeben ist) zum Anlass, ggf. nach vorheriger Einholung von amts- oder fachärztlicher Stellungnahmen, eine weitere gesundheitliche Überprüfung vornehmen zu lassen und ggf. Überstellungen abzubrechen und auszusetzen, bis die Reisefähigkeit festgestellt bzw. wiederhergestellt wird. Die Ausländerbehörden gehen regelmäßig sehr sensibel mit diesen Sachverhalten um. Zur Klärung der Reisefähigkeit bzw. Flugreisetauglichkeit ist die Vollzugsbehörde regelmäßig gehalten, vorgelegte Atteste, Stellungnahmen oder ärztliche Gutachten durch neutrales sachverständiges medizinisches oder fachpsychologisches bzw. -psychiatrisches Fachpersonal überprüfen zu lassen, um auf dieser Basis unvoreingenommen die ausländerrechtliche Feststellung über das Vorliegen eines dauerhaften oder vorübergehenden rechtlichen Abschiebungshindernisses zu treffen. Die Landesregierung unterstützt die Ausländerbehörden – z. B. innerhalb ihrer fachaufsichtlichen Beratung – darin, dass bei Vorliegen einer Erkrankung alle Vorkehrungen getroffen werden, um etwa einer denkbaren Verschlechterung des Gesundheitszustandes entgegenzuwirken und eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben im Rahmen der verfügbaren Möglichkeiten auszuschließen. Sie will damit gleichzeitig gewährleisten, dass in Fällen der Reiseunfähigkeit Rückführungen unterbleiben.

Hinsichtlich der benannten Frist ist zu bemerken, dass die zuständigen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten haben, also nicht nur innerhalb der einwöchigen Rechtsbehelfsfrist für das einstweilige Rechtsschutzverfahren bei Entscheidung des Bundesamtes gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG. Dabei beginnt das in den Blick zu nehmende Geschehen regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber der Ausländerin oder dem Ausländer und endet bei der Übergabe des oder der Betroffenen an die Behörden des Zielstaates. Verschlechterungen des gesundheitlichen Zustands während dieses Verfahren können ggf. auch eine erneute Überprüfung der Reisefähigkeit erforderlich machen.

3. Welche Möglichkeiten gibt es, beim Verdacht einer Traumatisierung und Suizidgefahr Abschiebungen auszusetzen?

Wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen gemindert oder ausgeschlossen werden kann, ist die Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG von der zuständigen Behörde auszusetzen. Diese Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn und solange die oder der Betroffene ohne Gefährdung der Gesundheit nicht transportfähig ist (Reisefähigkeit im engeren Sinne), sondern auch, wenn eine Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für die Ausländerin oder den Ausländer bewirkt (Reisefähigkeit im weiteren Sinne). Bei Vorliegen einer Erkrankung müssen alle Vorkehrungen getroffen werden, um einer etwa denkbaren Verschlechterung des Gesundheitszustands entgegenzuwirken und eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben im Rahmen der verfügbaren Möglichkeiten auszuschließen, wie dies durch Bereitstellung von medizinischem Begleitpersonal und gegebenenfalls durch Unterrichtung der Heimatbehörden des Zielstaats über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung geschehen kann. Bei attestierter Suizidalität wird zudem grundsätzlich eine Sicherheitsbegleitung erfolgen. In besonders gelagerten Fällen wird eine Übergabe der oder des Betreffenden in ärztliche Obhut unmittelbar nach Ankunft im Zielstaat organisiert.

Ergibt die ärztliche Untersuchung, dass die abzuschiebende Person aktuell – auch bei einer entsprechenden Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen – nicht reisefähig ist, wird der Vollzug der Abschiebung ausgesetzt und eine erneute Untersuchung nach einer gegebenenfalls ärztlicherseits vorgegebenen Frist durchgeführt.

Presseinformation

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erstellt am:
13.05.2015

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