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Polizeieinsatz gegen Kletterer bei Castortransport 2010

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 09.12.2010; Fragestunde Nr. 8


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage des Abgeordneten Hans-Henning Adler (LINKE); Es gilt das gesprochene Wort!

Während des Castortransportes 2010 kam es am Dienstag, den 9. November 2010, zwischen Laase und Gorleben zu folgendem Vorfall:

In einem Waldstück hatte ein Kletterer einen Baum in ca. 35 m Abstand von der Transportstrecke erklommen und befand sich in ca. fünf m Höhe. Ohne Aufforderung herunterzukommen und ohne Einsatz eines Höheninterventionsteams der Polizei wurde er von einem Polizisten, der durch Foto identifizierbar ist, mittels Gaseinsatz angegriffen. Als Folge der Gaswirkung stürzte der geübte Kletterer aus dieser Höhe ab und verletzte sich schwer. Sein Begleiter bat um medizinische Versorgung. Nach einiger Zeit wurde ein Polizeisanitäter hinzugezogen, den der Betroffene aber ablehnte, da er kein Vertrauen habe. Er wolle stattdessen von einem „zivilen“ Arzt versorgt werden. Trotz mehrfachen Beteuerns, dass eine schwere Verletzung im Bereich der Wirbelsäule vorliege, wurde der Betroffene anschließend mehrere Hundert Meter durch den Wald getrieben. Er bestand seinerseits wiederum auf einer medizinischen Versorgung durch einen „zivilen“ Arzt. Schließlich traf in einem Polizeipassat eine Ärztin ein, die dann dafür sorgte, dass die waffentragenden Polizisten sich entfernten. Sie nahm schließlich die Erstversorgung vor. Insgesamt dauerte es über eine Stunde, bis der Verletzte mit einem Fahrzeug zu einem Platz gefahren wurde, von wo aus er anschließend per Hubschrauber in ein Krankenhaus geflogen wurde. Dort wurde neben diversen Verletzungen insbesondere die Fraktur eines Brustwirbels diagnostiziert.

Ich frage die Landesregierung:

1. Warum wurde unter Gaseinsatz vorgegangen (insbesondere auch eine „zivile“ medizinische Versorgung verweigert), und wer trägt dafür die Verantwortung?

2. Warum wurde der an der Wirbelsäule schwer Verletzte weiter in den Wald getrieben mit dem Risiko, eine Querschnittslähmung zu erleiden?

3. Welches Gas mit welcher expliziten Wirkung wurde verwendet, und wie werden Polizisten für das Einsetzen von Gas geschult (Wirkung, Anwendungssituation, Versorgung von Verletzten)?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Zu der vorliegenden Anfrage hat mir die Polizeidirektion (PD) Lüneburg als verantwortliche Behörde für die polizeilichen Einsatzmaßnahmen aus Anlass des Castortransportes aus La Hague nach Gorleben berichtet. Danach hat sich der in Rede stehende Vorfall nach den bisherigen Feststellungen wie folgt zugetragen:

Zwischen den Ortschaften Laase und Gorleben, ca. 15 Meter von der vorgesehenen Straßenstrecke für den Castortransport entfernt, erkletterte am 9. November 2010 eine Person mit an den Schuhen angebrachten Steigeisen zügig einen Baum. In ca. vier bis fünf Meter Höhe verlor sie dabei ohne Einwirkung anderer Personen den Halt, rutschte ab und stürzte zu Boden.

Zum Zeitpunkt des Sturzes waren Einsatzkräfte der Bundespolizei vor Ort. Durch diese sind Reizstoffe gegen die Person nicht eingesetzt worden. Von der betroffenen Person selbst ist dieses im Übrigen gegenüber der Polizei und dem Sanitätspersonal auch nicht behauptet worden.

Zwei aus der unmittelbaren Nähe umgehend zur Erstversorgung herbeigerufene Rettungssanitäter der Polizei befragten die Person direkt nach dem Sturz nach ihrem Befinden und Verletzungssymptomen. Die gestürzte Person lehnte aber jede Hilfeleistung durch die Polizei ab und entfernte sich ein Stück, bevor sie sich wieder auf dem Boden niederließ und angab, doch Hilfe zu benötigen.

Die von den Rettungssanitätern wiederum angebotene Hilfe lehnte die Person aber erneut ab und verließ dann - trotz von den Sanitätern vorgetragener Hinweise auf mögliche Risiken bzw. Komplikationen - unterstützt von zwei umstehenden Personen fußläufig den Absturzort.

Kurze Zeit später befand sich die verletzte Person mehr als 100 Meter von der Transportstrecke entfernt auf einem Waldweg, wo sie erneut von den Rettungssanitätern in Begleitung einer zwischenzeitlich hinzugekommenen Ärztin der Bundespolizei aufgesucht wurde. Hier gab die verletzte Person erneut an, sich nur durch zivile Rettungskräfte bzw. Ärzte versorgen zu lassen. Ein örtlicher Rettungstransportwagen und ein Rettungshubschrauber wurden daraufhin angefordert.

Die Ärztin der Bundespolizei blieb bis zum Eintreffen des zivilen Rettungsdienstes vor Ort.

Die betreute Person war dabei ansprechbar, bei stabilem Kreislauf und vollem Bewusstsein sowie zeitlich und örtlich voll orientiert. Alle Gliedmaßen konnten aktiv bewegt werden. Neurologische Ausfälle und Sensibilitätsstörungen konnten durch die Ärztin nicht festgestellt werden.

Die Person klagte über Rückenschmerzen, ein Taubheitsgefühl wurde dabei nicht angegeben. Das Angebot von Schmerzmitteln in Form von Tropfen, Tabletten und Infusionen lehnte sie ab.

Nach Eintreffen der zivilen Rettungskräfte erfolgte durch diese die Übernahme der notärztlichen Versorgung und das Verbringen per Rettungshubschrauber in das Krankenhaus Uelzen.

Durch die vor Ort eingesetzten Sanitätskräfte und Ärzte sind typische Anzeichen für die Einwirkung von Reizstoffen wie Tränenfluss, Augenrötung und krampfhafter Lidschluss bei der Person nicht festgestellt worden.

Dies vorangestellt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Die Polizei führt keine „Gaseinsätze“ oder Angriffe durch, sondern setzt bei entsprechendem Erfordernis Reizstoffe oder andere Zwangsmittel auf gesetzlicher Grundlage des Nds. SOG ein.

Eine zivile medizinische Versorgung der gestürzten Person wurde nicht verweigert, sondern unverzüglich angefordert nachdem deutlich wurde, dass die Person sich von der vor Ort befindlichen Polizeiärztin nicht behandeln lässt.

Im Übrigen siehe Vorbemerkung.

Zu 2.:

Die verletzte Person verließ trotz eindringlicher Hinweise von Seiten der Polizei zu den Risiken auf eigenen Wunsch den Geschehensort und wurde keineswegs „weiter in den Wald getrieben“.

Im Übrigen siehe Vorbemerkung.

Zu 3.:

In der in Rede stehenden Situation wurden Reizstoffe nicht eingesetzt.

Für die niedersächsische Polizei sind mit Runderlass vom 3.2.2009 die Reizstoffe Capsaicin (Pfefferspray), Chloracetophenon und Chlorbenzylidenmalononitril zur Verwendung in Reizstoffsprühgeräten (RSG) als Distanzmittel für den allgemeinen polizeilichen Gebrauch zugelassen.

Der Erlass beinhaltet neben den polizeirechtlichen Bestimmungen für ihre Anwendung auch Sicherheitsbestimmungen sowie Hinweise zur praktischen Handhabung, zu den Anwendungsmöglichkeiten, zu Wirkungsweisen und zur Nachversorgung bei Betroffenen.

RSG sind im Außendienst grundsätzlich als persönliche Ausstattung mitzuführen. Im Rahmen von praktischen Trainings müssen sich die Polizeibeamtinnen und -beamten mit den Anwendungsmöglichkeiten und Wirkungsweisen vertraut machen.

Presseinformation

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erstellt am:
09.12.2010

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