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Verdeckte Maßnahmen in der linksextremistischen Szene

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 11.11.2011; Fragestunde Nr. 30


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die mündliche Anfrage des Abgeordneten Jan-Christoph Oetjen (FDP)

Der Abgeordnete hatte gefragt:

Anlässlich der Brandanschlagsserie auf Bahnanlagen in Berlin ist eine Diskussion über eine mögliche „neue Qualität“ des Linksextremismus entstanden. Nach Einschätzung von Sicherheitsexperten seien die Anschläge nicht von Einzeltätern verübt, sondern systematisch geplant worden. Neu sei insbesondere, dass Linksextreme bei Anschlägen die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nähmen. Um dieser mutmaßlich neuen Qualität des Extremismus entgegenzuwirken, fordern Polizeigewerkschafter und Vertreter der Sicherheitsbehörden den verstärkten Einsatz verdeckter Maßnahmen in der linksextremen Szene.

Ich frage die Landesregierung:

  1. Gibt es nach Auffassung der Landesregierung auch in Niedersachsen Anzeichen für eine neue Qualität des Linksextremismus, und, falls ja, auf welche Anhaltspunkte stützt sich diese Einschätzung?
  2. Welche verdeckten Maßnahmen kommen aus Sicht der Landesregierung im linksextremistischen Milieu in Betracht, und hält die Landesregierung den derzeitigen Umfang von Maßnahmen für ausreichend?
  3. Wie beurteilt die Landesregierung die Forderung, dass verdeckte Ermittler zum Zwecke der Tarnung „szenetypische Straftaten“ wie etwa Sachbeschädigung begehen dürfen sollen?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Anfrage wie folgt:

Der Extremismus in jeglicher Form stellt die Gesellschaft, die Sicherheitsbehörden sowie den Staat allgemein vor große Herausforderungen.

Vor allem die linksextremistische autonome Szene ist durch eine zum Teil hasserfüllte Ablehnung des politischen Systems der Bundesrepublik, ihrer Institutionen und Repräsentanten geprägt. In ihrem anarchistischen Verständnis lehnt sie Recht und Gesetz ab und bekämpft die freiheitliche demokratische Grundordnung. Diese Einstellung zeichnet sich vor allem durch ein hohes Maß an Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und durch eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft aus.

Nach Bewertung durch die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder ist in den letzten Jahren das Niveau der linksextremistischen Gewalt deutlich angestiegen. Während die Gewalt gegen Rechtsextremisten in der linksextremistischen Szene stets vermittelbar war, wächst die szeneinterne Akzeptanz gewalttätiger Angriffe auf staatliche Repräsentanten, insbesondere auf Polizeibeamte. Damit verbunden sind eine erhöhte Aggressivität, gesteigerte Risikobereitschaft und koordinierte Planung. Die Gewaltdrohungen richten sich nicht mehr nur gegen Sachen oder abstrakt gegen eine politische Feindgruppe, sondern auch gezielt gegen zum Teil namentlich angesprochene Einrichtungen und Einzelpersonen.

Diese Entwicklung verdeutlichen u.a. die linksextremistisch motivierten Brandanschläge auf das Schienennetz der Deutschen Bahn im Großraum Berlin vom Mai und Oktober diesen Jahres ebenso wie die Angriffe auf Polizeiwachen in Hamburg Anfang Dezember 2009 und in Berlin im April 2011 oder die zunehmenden gewalttätigen Konfrontationen zwischen Rechts- und Linksextremisten. Sie zeigen, dass die Täter planmäßig und rücksichtslos vorgingen und bewusst in Kauf nahmen, Menschen körperlichen Schaden zuzufügen.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu Frage 1.

Nach Einschätzung der Landesregierung hat die Gewaltbereitschaft autonomer Links-extremisten auch in Niedersachsen zugenommen.

Auch in Niedersachsen sind schwere Gewalttaten zu verzeichnen, die der linksextremistischen autonomen Szene zuzurechnen sind:

Am Morgen des 22. Januars 2010 haben unbekannte Täter während der Bürozeiten mit einem selbstgebauten Brandsatz versucht, das Gebäude des Landkreises Göttingen, in der Teeküche im zweiten Obergeschoss im Bereich des Ausländeramtes, in Brand zu setzen. Als ein Mitarbeiter des Landkreises Göttingen den Brand löschen wollte, kam es zu einer Verpuffung als er den Raum betrat. Der Geschädigte wurde durch eine Druckwelle aus der Teeküche geschleudert und dabei leicht verletzt. Aufgrund des modus operandi und anderer Umstände ist diese Tat der linksextremistischen Szene Göttingens zuzurechnen (siehe Anlage Nr. 7 zum Protokoll der Plenarsitzung vom 13.10.2011).

Während der Proteste gegen den Castortransport im November 2010 wurde ein Sonderfahrzeug der Polizei in Brand gesetzt. Die Polizeibeamten wurden durch Steinwürfe am Ausstieg gehindert. Ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet.

In Göttingen verübten in der Nacht vom 11. auf den 12. März 2011 unbekannte Täter einen Brandanschlag auf das Haus der Göttinger Burschenschaft Brunsviga, indem sie zwei Altpapiertonnen unmittelbar vor der Haustür der Burschenschaft mittels eines unbekannten Brandbeschleunigers entzündeten. Zum Tatzeitpunkt befanden sich neun schlafende Bewohner im Haus. Bereits in den Jahren zuvor waren die Verbindungshäuser der Brunsviga und anderer Burschenschaften immer wieder Ziel von Angriffen durch die linksextremistische autonome Szene.

Zudem haben insbesondere die gewalttätigen körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremisten in verschiedenen Regionen Niedersachsens zugenommen. So wurde am 3. April 2010 im Stadtgebiet von Buchholz i. d. Nordheide (Landkreis Harburg) das Fahrzeug eines NPD-Funktionärs auf dem Weg zu einer angemeldeten Demonstration von Linksextremisten angegriffen. Ein gezielt geworfener Pflasterstein durchschlug dabei die Seitenscheibe des Fahrzeuges und verletzte einen der Insassen so schwer, dass dieser einen offenen Schädelbruch erlitt.

Darüber hinaus kam es in den letzten Jahren zu Brandanschlägen auf Kraftfahrzeuge. So wurden in der Nacht zum 29. November 2008 durch einen Brandanschlag sechs Fahrzeuge der Stadtwerke Göttingen zerstört oder stark beschädigt. Es entstand ein Sachschaden von über 150.000 Euro. Im Rahmen der Ermittlungen durch die Polizei, fanden die Ermittler an einer Umfriedungsmauer zur Godehardstraße folgenden Schriftzug: „Nieder mit Kapitalismus, Patriarchat und Gewalt gegen Frauen etc. MZ(G)“. Das Kürzel „MZ“ steht für „Militante Zellen“.

Die Zielrichtung und der Modus operandi dieses Brandanschlages sprechen für einen Zusammenhang mit der Serie mutmaßlich linksextremistisch motivierter Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge in Göttingen in den Jahren 2006, 2007 und 2008. Zum Teil hatte sich am

15. Januar 2008 eine zum damaligen Zeitpunkt unbekannte Gruppe mit dem Namen „militante Zellen (gruppe) – abgekürzt „m.z.(g)“ in Form eines Bekennerschreibens, das bei verschiedenen Zeitungsredaktionen in Hamburg eingegangen war - zu den Taten bekannt.

Vor allem in Niedersachsen sind in den letzten zwei Jahren verstärkt Aktivitäten militanter Tierschützer festzustellen, die durch Straftaten, wie z.B. Tierbefreiungen oder Brandanschläge auf Mastanlagen Sachschäden in Millionenhöhe verursacht haben. Einige von ihnen verstehen ihre militanten Aktionen auch als Kampf gegen den zu überwindenden demokratischen Rechtsstaat und weisen so deutliche Bezüge zum Linksextremismus auf. So werden beispielsweise auf der Internetseite http://veganelinke.antispe.org neben Tierrechtsaktionen auch die von Linksextremisten besetzten Aktionsfelder Antikapitalismus, Antisexismus, Antirassismus und Antifaschismus thematisiert, Logos mit den Bezeichnungen „vegantifa“ sowie „veganarchist“ verwendet und Aufrufe mit der Losung „fight capitalism!“ enden gelassen.

Diese Beispiele belegen, dass Linksextremisten nicht nur die Ausübung von Gewalt gegen Sachen als legitim im Kampf gegen den Verfassungsstaat und seine Organe oder gegen Rechtsextremisten ansehen. Vor allem Angriffe, die zu Verletzungen oder gar dem Tod von Menschen führen können, zeugen von einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der linksextremistischen autonomen Szene, insbesondere gegenüber staatlichen Repräsentanten. Zwar gibt es zurzeit keine Anhaltspunkte für gezielte Anschläge auf das Leben von Personen. Die Art der Tatbegehungen, deren Planungen, einschließlich einer in Szenemedien propagierten professionellen Absicherung, lassen aber eine neue Qualität linksextremistischer Gewalt erkennen, bei der die Gefährdung von Menschenleben zumindest billigend in Kauf genommen wird.

Zu Frage 2:

Sämtliche offenen und verdeckten Maßnahmen, die zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Niedersächsischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. der Strafprozessordnung vorgesehen sind, kommen auch bei der polizeilichen Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität im Phänomenbereich - Links - in Betracht. Eine Option ist dabei der Einsatz verdeckter Ermittler. Die Anordnung und Durchführung der polizeilichen Maßnahmen erfolgt anlassbezogen stets im Rahmen des erforderlichen und verhältnismäßigen Umfangs. Angesichts der jüngsten schwerwiegenden Brandanschläge kommen zunehmend verdeckte Maßnahmen gegen die konspirativ agierenden Täter in Betracht.

Der Niedersächsischen Verfassungsschutzbehörde stehen – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im jeweiligen Einzelfall – für alle Extremismusbereiche sämtliche nach dem Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz zur Verfügung stehenden offenen und verdeckten Maßnahmen, auch zur heimlichen Informationsbeschaffung, zu.

Zu Frage 3:

Die Landesregierung ist nicht der Auffassung, dass verdeckte Ermittler „szenetypische Straftaten“, wie etwa Sachbeschädigung begehen dürfen. Eine dahingehende Forderung teilt sie nicht.

Presseinformation

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erstellt am:
14.11.2011

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