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Gefangenensammelstelle bei Castortransport

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 09.12.2010; Fragestunde Nr. 3


Innenminister Uwe Schünemann beantwortet die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ursula Weisser-Roelle (LINKE); Es gilt das gesprochene Wort!

Die Abgeordnete hatte gefragt:

Während des Castortransportes 2010 kam es nach Auflösung einer Schienenblockade von ca. 1 500 Menschen im Bereich Harlingen in der Nacht zum 8. November 2010 auf freiem Felde zur Ingewahrsamnahme dieser Menschen in einer Art Wagenburg. Trotz Frosttemperaturen mussten die Betroffenen so bis zu sieben Stunden ausharren, ohne der Rechtslage entsprechend unverzüglich Richtern vorgeführt zu werden.

Ich frage die Landesregierung:

1. Auf welcher Rechtsgrundlage wurden diese massenhaften Ingewahrsamnahmen auf freiem Feld vorgenommen, und warum nutzte man nicht die dafür vorgesehenen GESAs in der Polizeikaserne in Lüchow?

2. Warum waren keine Richter vor Ort bzw. warum wurde die Annahme von Anträgen von Betroffenen auf eine Richtervorführung verweigert, um die Polizeimaßnahme rechtlich zu würdigen und um sicherzustellen, dass die Betroffenen, wie es ihr Recht ist, unverzüglich einem Richter vorgeführt werden konnten?

3. Warum benutzte die Einsatzleitung dieses Vorgehen zum wiederholten Male, obwohl es schon mehrfach in Gerichtsverfahren als unrechtmäßig beanstandet wurde?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Zu der vorliegenden Anfrage hat mir die Polizeidirektion (PD) Lüneburg als verantwortliche Behörde für die polizeilichen Einsatzmaßnahmen aus Anlass des Castortransportes aus La Hague nach Gorleben berichtet. Die PD Lüneburg weist darauf hin, dass die nachfolgenden Darstellungen auf den dort vorliegenden Berichten zum Einsatzgeschehen beruhen, und es in Anbetracht der engen Terminsetzung nicht möglich war, alle Details aus der Einsatzdokumentation zu filtern und darzustellen.

Am 7. November 2010 begaben sich im Bereich Harlingen bereits in den Vormittagstunden mehrere Personengruppen in einer Größenordnung von 150 bis 1000 Personen an bzw. auf den Gleiskörper. Bis 19.00 Uhr wuchs die Anzahl der Personen auf etwa 3000 Personen an. Von Teilen dieser Personengruppe wurden Schottersteine in größeren Mengen aus dem Gleisbett entfernt, so dass das Gleis nicht mehr befahrbar war. Eine Instandsetzung konnte aufgrund der vorhandenen Blockade nicht durchgeführt werden.

Nachdem die Blockade von den Personen auch nach mehreren Kooperationsgesprächen freiwillig nicht beendet wurde, erging durch den Gesamteinsatzleiter der Polizei die Anordnung, die Transportstrecke zu räumen. Bereits vor Räumungsbeginn gab es große Abwanderungstendenzen. Nach der dritten Durchsage der Polizei zur Räumung der Gleisbesetzung gegen 01.40 Uhr wurde mit der Räumung begonnen. Insgesamt hatten bis dahin ca. 1.800 Personen die Blockade verlassen bzw. entfernten sich aus dem Bereich.

Da die Blockade in einer Trogstrecke stattfand, mussten die Polizeibeamten die Blockadeteilnehmer bis zu 1000 Meter weit tragen, um das Gleis räumen zu können. Anschließend wurden die Personen vor Ort in Gewahrsam genommen, um eine erneute Blockade durch diese Personen zu verhindern.

Auf die Einholung der richterlichen Anordnung über die Ingewahrsamnahme vor Ort wurde vorerst verzichtet, da dies nach Einschätzung der Gesamteinsatzleitung mehr Zeit in Anspruch genommen hätte als die zu erwartende Dauer der Ingewahrsamnahme vor Ort.

Aufgrund der Vielzahl der Personen und der örtlichen Gegebenheiten dauerte das Wegtragen der Blockierer entgegen der ersten Einschätzung der Gesamteinsatzleitung wesentlich länger. So konnten bis ca. 04.25 Uhr lediglich 500 Blockierer von den Gleisen getragen und in Gewahrsam genommen werden.

Parallel dazu wurden Transportkräfte nach Harlingen entsandt, die die Ingewahrsamgenommenen der Gefangenensammelstelle in Lüchow zuführen sollten, um diese dem dort anwesenden zuständigen Richter zur Entscheidung über die Ingewahrsamnahme vorzuführen.

Aufgrund einer Vielzahl von Traktorblockaden im Einsatzraum verzögerte sich das Eintreffen der Transportkräfte erheblich, zum Teil konnte der Einsatzort von diesen Kräften gar nicht erreicht werden. Unter den gegebenen Bedingungen konnte eine Zuführung von in Gewahrsam genommenen Personen nur in sehr begrenztem Umfang erfolgen. Eine Zuführung aller Personen hätte erheblich mehr Zeit in Anspruch genommen, als die Durchführung der Maßnahmen selbst.

Insgesamt 12 Personen sind zur Gefangensammelstelle nach Lüchow verbracht worden. Der erste Transport mit 3 Jugendlichen erreichte gegen 03.30 Uhr die Gefangenensammelstelle in Lüchow. Die 3 Jugendlichen wurden ab ca. 05.55 Uhr den berechtigten Personen übergeben. Der nächste Gefangenentransport erreichte mit 9 Personen gegen 08.20 Uhr die Gefangenensammelstelle in Lüchow, wobei die letzte der Personen gegen 08:39 Uhr in die Gefangenensammelstelle aufgenommen wurde. Die richterliche Vorführung dieser Personen wurde daraufhin sofort vorbereitet.

Nachdem die Räumungsmaßnahmen beendet und 1.217 Personen vor Ort in Gewahrsam genommen waren, konnte das Gleisbett wieder betriebsbereit hergestellt werden. Gegen 08.20 Uhr setzte der Transportzug seine Fahrt fort. Als der Zug gegen 09.03 Uhr die vor Ort Ingewahrsamgenommenen im Bereich Harlingen passiert hatte und somit der Grund für die Ingewahrsamnahme entfallen war, sind alle Ingewahrsamgenommenen umgehend entlassen worden.

Dieses vorangestellt, beantworte ich die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Die Ingewahrsamnahmen sind gem. §§ 18 ff. Nds. SOG durchgeführt worden.

Im Übrigen siehe Vorbemerkungen.

Zu 2.:

Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Amtsgericht Dannenberg waren während des Castor-Transportes rund um die Uhr in Lüchow in der Gefangenensammelstelle einsatzbereit vor Ort.

Am Sonntag, Montag und am Dienstag, das heißt vom 7. bis 9. November 2010, bis zum Ein­treffen des Castors im Zwischenlager in Gorleben waren Richterinnen und Richter rund um die Uhr in der extra eingerichteten Zweigstelle des Amtsgerichts in der Gefangenensammelstelle der Polizeiunterkunft in Lüchow anwesend. In diesem Rahmen waren fünf Richterinnen und Richter des Amtsgerichts Dannenberg sowie der abgeordnete Direktor des Amtsgerichts Winsen/Luhe permanent im Einsatz. In Rufbereitschaft waren - ebenfalls abgeordnet - siebzehn Richterinnen und Richter des Landgerichts Lüneburg. Ebenso vor Ort waren Kräfte der sog. mittleren Beschäftigungsebene (Geschäftsstellen- und Schreibkräfte). Der Dienst fand in der Gefangenensammelstelle statt, die entsprechend mit der notwendigen EDV und sonstigem für ein rechtsstaatliches Verfahren erforderlichem Material ausgestattet ist.

Ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, das - auch im Interesse der Betroffenen - jedenfalls einzuhalten ist, erfordert bestimmte, auch formelle, Voraussetzungen. So ist unter anderem neben einer zweifelsfreien Identitätsfeststellung eine sorgfältige Dokumentation des Verfahrens zwingend erforderlich. Hierfür ist eine entsprechende Ausstattung der Richterinnen und Richter notwendig. Diese war in der Gefangenensammelstelle vorhanden, wäre jedoch vor Ort im Bereich Harlingen nicht zu leisten gewesen.

Über Verweigerungen der Annahme von Anträgen liegen der PD Lüneburg keinerlei Kenntnisse vor. Die richterliche Vorführung der zur Gefangenensammelstelle verbrachten Personen wurde sofort vorbereitet. Die Personen wurden jedoch aus dem Gewahrsam entlassen, bevor eine richterliche Vorführung stattfinden konnte. Eine freiwillige Angabe der Personalien, um den Rechtsweg nach § 19 Abs. 2 Nds. SOG zu gewährleisten, war bereits im mobilen Gewahrsam möglich und angeboten worden.

Im Übrigen siehe Vorbemerkungen.

Zu 3.:

Die Gesamteinsatzleitung hat sowohl in der Vorbereitung als auch im Einsatz die ihr bekannte Rechtsprechung zu Freiheitsentziehungen berücksichtigt. Es sind sowohl Heißgetränke und Decken verteilt sowie Toiletten bereitgestellt worden. Zur Rechtmäßigkeit von Einschließungen im Freien wird von hier auf die Beschlüsse des OLG Celle vom 25.10.2004 (16 W 145/04) und des LG Lüneburg vom 18.02.2008 (10 T 43/06) verwiesen, die die Rechtmäßigkeit der Einschließung von 724 Personen auf freiem Feld zur Nachtzeit während des Castortransportes 2002 festgestellt hatten. Insbesondere heben beide Entscheidungen hervor, dass die mit der Ingewahrsamnahme verbundenen Unannehmlichkeiten, wie Kälte und eine nur mäßige Versorgung mit Toiletten, nicht zur Rechtswidrigkeit des Gewahrsam führen.

Presseinformation

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erstellt am:
09.12.2010

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