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Beantwortung der Mündl. Anfrage der GRÜNEN zu Tötungsdelikten in Niedersachsen

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 16. September 2016; Fragestunde Nr. 2

Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport antwortet namens der Landesregierung auf die Mündliche Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg, Meta Janssen-Kucz, Filiz Polat und Maaret Westphely (Grüne) wie folgt:

Vorbemerkung der Abgeordneten

Nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 hat die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder auf ihrer Frühjahres-konferenz im Jahr 2012 beschlossen, eine Überprüfung von nicht aufgeklärten Altfällen aus den Jahren von 1990 bis 2011 vorzunehmen. Überprüft werden soll, inwiefern diese Taten mit dem NSU vergleichbare Tatmodalitäten oder mögliche Bezüge zur Politisch motivierten Kriminalität (PMK) -rechts- aufweisen, um festzustellen, ob ein möglicher rechtsextremer Hintergrund übersehen worden ist.

Bereits seit Langem gibt es eine Kontroverse zwischen journalistischen und zivilgesellschaftlichen Recherchen und den behördlichen Kriminalstatistiken hinsichtlich der realen Dimension rechter Tötungen. Das zeigen exemplarisch folgende Fälle:

a) Auszüge aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim 14 KLs 3 Js 11722/91: „Die angeklagten (…) sind in der Beteiligung an einer Schlägerei schuldig; der Angeklagte (…) ist darüber hinaus der tateinheitlichen fahrlässigen Tötung schuldig.“ „Der Angeklagte hat sich nach dem Urteil im Mai 1991 aus der Skinhead-Szene zurückgezogen.“ Ferner heißt es in der Begründung des Urteils zur Schilderung des Tathergangs u. a.: „Ein Mädchen aus der Gruppe (Skinheads) rief sinngemäß: ‚Da ist `ne Zecke!‘ Zecke ist in Skinhead-Kreisen die Bezeichnung für einen Punker. Der Angeklagte (…) sprang aufgrund dieses Zurufs auf und verfolgte Matthias Knabe in der Absicht, ihn ‚aufzumischen‘“. Auf weitere detaillierte Schilderungen und Hinweise auf Zeugenaussagen wird verzichtet.

b) „Der 21-jährige Wehrdienstleistende Alexander Selchow wird in der Silvesternacht 1990 in Rosdorf (Niedersachsen) von zwei 18-jährigen Skinheads niedergestochen, die beide der rechtsextremistischen FAP (Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei) angehören. Alexander Selchow stirbt am 1. Januar 1991 an den Folgen mehrerer Messerstiche. Das Landgericht Göttingen verurteilt den Messerstecher wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu sechs Jahren Jugendstrafe; sein Mittäter kommt mit vier Wochen Arrest davon, den er aufgrund der Untersuchungshaft nicht antreten muss. Der zuständige Staatsanwalt hatte stattdessen in seinem Plädoyer auf sieben Jahre bzw. ein Jahr sechs Monate Jugendhaft wegen Totschlags gefordert. Seiner Argumentation, die Täter hätten den Tod S. billigend in Kauf genommen, folgte das Gericht jedoch nicht. [1]

„Beide geschilderten Fälle erfüllen die o. g. Kriterien der Fallüberprüfung nicht, da die Täter bereits verurteilt worden sind. Alexander Selchow und Matthias Knabe werden in der offiziellen Statistik nicht als Opfer rechter Gewalt geführt, dabei wäre eine nachträgliche Anerkennung insbesondere für die Familien und Freundinnen und Freunde der beiden Getöteten von großer ideeller Bedeutung. Zu dem Zeitpunkt der beiden Taten gab es die Kriminalstatistik über politisch motivierte Kriminalität -rechts- nicht.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die Polizeibehörden des Bundes und der Länder haben sich unmittelbar nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) darauf verständigt, alle bislang ungeklärten „Altfälle“ von versuchten und vollendeten Tötungsdelikte aus den Jahren 1990 bis 2011 neu zu überprüfen. Der Arbeitskreis „Innere Sicherheit“ (AK II) - als Fachgremium der Leiter der Polizeiabteilungen der Innenministerien bzw. -senatoren der Länder und des Bundesministeriums des Innern - hatte am 28. September 2010 die Thematik „Todesfälle infolge rechter Gewalt“ erörtert und die ihm nachgeordneten polizeilichen Fachgremien mit der Untersuchung beauftragt, ob und ggf. wie die Differenzen zwischen den von den Polizeien der Länder erfassten und in der Presse genannten Fallzahlen geprüft werden sollten.

Zur systematischen Auswertung sogenannter Altfälle wurde ein Konzept mit einem bundesweit einheitlichen Erhebungsraster entwickelt, das sich insbesondere an einem Straftatenkatalog von Gewaltdelikten mit denkbarem Hintergrund aus dem Bereich PMK -rechts- sowie an opferbezogenen Indikatoren orientiert. Ziel war es, im Kontext zu anderen Taten oder im Rahmen neuer Ermittlungsansätze Hinweise auf einen etwaigen rechtsextremistischen/-terroristischen Hintergrund zu erlangen.

Dabei standen Straftaten im Blickpunkt, bei denen in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie aufgrund bestimmter Indikatoren wie beispielsweise ihrer Herkunft, Nationalität, Volkszugehörigkeit, ethnokulturellen Zugehörigkeit, einer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung gegen Personen gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang stehen könnte.

In der ersten Phase wurden alle bislang ungeklärten „Altfälle“ von versuchten und vollendeten Tötungsdelikte aus den Jahren 1990 bis 2011 unter Verwendung des bundesweit einheitlichen Erhebungsrasters überprüft. Gleichzeitig wurde auch die von Journalisten der Zeitungen DER TAGESSPIEGEL und DIE ZEIT für den Zeitraum seit 1990 recherchierte und im September 2010 veröffentlichte Liste von 137 Todesopfern rechter Gewalt („Opferliste“) oder auch sog. Jansen-Liste in die Überprüfung einbezogen. Auf dieser Liste befinden sich auch die Verstorbenen Alexander Selchow und Matthias Knabe.

Anhand der Kriterien des Indikatorenkatalogs konnte bei den beiden genannten Taten eine rechtsmotivierte Tatbegehung nicht ausgeschlossen werden. Beide Fälle wurden Ende 2012 mit Sondermeldung GAR (damals Gemeinsames Abwehrzentrum Rechts, heute GETZ-R) dem Landeskriminalamt Niedersachsen gemeldet. Nach Prüfung der zu diesem Zeitpunkt der Prüfung noch vorliegenden Informationen wurde von einer Umwidmung in eine Tat der PMK-rechts abgesehen. Es konnte zwar nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es sich um rechtsmotivierte Taten gehandelt hat. Es sprachen aber dennoch Anhaltspunkte dagegen. So lagen in beiden Fällen sogenannte „Täter-Opfer-Beziehungen“ vor.

Darüber hinaus waren die in der Anfrage aufgeführten Sachverhalte bereits Gegenstand einer Anfrage der Partei DIE LINKE (vgl. Bundestagsdrucksache 17/161) sowie der Kleinen Anfrage der Abgeordneten Zimmermann (LINKE) zum Thema „Todesopfer neonazistischer Gewalt in Niedersachsen seit 1990“ (Landtagsdrucksache 16/4635).

Wie in der Beantwortung der Landtagsanfrage bereits deutlich ausgeführt wurde, wurden die beiden Tötungsdelikte bereits im Rahmen der Beantwortung von zwei Großen Anfragen durch die Bundesregierung einer entsprechenden Überprüfung in Niedersachsen unterzogen. Eine weitere Überprüfung erfolgte im Rahmen der Erstellung der Antwort für die Landtagsanfrage durch das Landeskriminalamt Niedersachsen. Neue Anhaltspunkte darauf, dass den Taten eine rechtsextremistische Tatmotivation zu Grunde lag, haben sich anhand der zu diesen Zeitpunkten noch vorliegenden Erkenntnisse nicht ergeben. Daher ist auch eine Aufnahme der Taten in die Statistik der politisch motivierten Kriminalität –rechts- nicht zulässig.

Anhaltspunkte dafür, dass bei der Prüfung der beiden Tötungsdelikte falsche Kriterien angewandt oder falsche Schlussfolgerungen gezogen wurden, liegen der Landesregierung nicht vor. Dementsprechend zieht die Landesregierung die Einschätzung der Fachdienststellen nicht in Zweifel.

Festzustellen bleibt, dass beide Tötungsdelikte mehrfach hinsichtlich ihrer Einstufung als Tat der politisch motivierten Kriminalität – rechts überprüft worden sind. Die mit der Prüfung betrauten Fachdienststellen sprachen sich gegen eine Umwidmung aus.

1. Sieht die Landesregierung in den oben geschilderten Sachverhalten Alexander S. und Matthias K. Todesopfer rechter Gewalt?

Auf die oben gemachten Ausführungen wird verwiesen.

2. Würde die Landesregierung die beiden o. g. Fälle nach heutigen Maßstäben in die offizielle Statistik Politisch motivierter Kriminalität (PMK) -rechts- aufnehmen?

Auf die oben gemachten Ausführungen wird verwiesen.

3. Sind der Landesregierung weitere, vergleichbare Fälle bekannt?

Der Landesregierung sind über die oben aufgeführten Tötungsdelikte vier vergleichbare Fälle bekannt. Auch diese wurden bereits einer mehrfachen Überprüfung unterzogen. Insofern wird auf die Antwort der Niedersächsischen Landesregierung auf die Kleine Anfrage zum Thema „Todesopfer neonazistischer Gewalt in Niedersachsen seit 1990“ (Landtagsdrucksache 16/4635) vom 15. März 2012 verwiesen. Dieser ist zu entnehmen, dass sich anhand der noch vorliegenden Erkenntnisse keine neuen Anhaltspunkte darauf ergeben haben, die auf eine rechtsextremistische Tatmotivation hinweisen.


[1] http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/erinnerungen/dezember/alexander-selchow/

Presseinformation

Artikel-Informationen

erstellt am:
16.09.2016

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