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Neonazi-Aufzug in Peine

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete die Kleine Anfrage des Abgeordneten Janßen (Grüne)


Es gilt das gesprochene Wort

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 16.09.2005

Der Abgeordnete hatte gefragt:

Am 20. August 2005 sind ca. 500 Neonazis skandierend, pöbelnd und brüllend mit einer unangemeldeten Demonstration durch die Peiner Innenstadt marschiert. Die Presseberichterstattung kritisiert dafür die Polizei und den Verfassungsschutz in Niedersachsen. Neun Busse mit Neonazis erreichten, ohne dass die Polizei zuvor Kenntnis davon erlangt hatte, Peine. Zuvor war die Buskolonne lediglich auf der A 2, aus Richtung Magdeburg kommend, von der Autobahnpolizei gesichtet worden, die ihre Kollegen daraufhin unterrichteten. Geschäftsleute und Passanten in der Innenstadt waren entsetzt, weil zunächst keine Polizei zu sehen war. Die Polizei schritt ein, aber nicht um einige Wahlkämpfer demokratischer Parteien, die zuvor von den Demonstranten angepöbelt wurden, zu schützen, sondern um deren Personalien aufzunehmen und darüber zu klären, ob sie auch eine Genehmigung hatten. Erst nachdem die Demonstranten sich schon fast wieder in ihre Busse begeben wollten, war die Verstärkung der Peiner Polizei eingetroffen, die lediglich noch die Personalien der Teilnehmer feststellen konnte.

Ich frage die Landesregierung:

1. Warum hatten Polizei und Verfassungsschutz keine Kenntnis von dem geplanten Aufzug, obwohl die Organisation, wie z. B. die Anreise, durch die ständige Überprüfung der Neonazis durch niedersächsische Sicherheitskräfte hätte bekannt werden müssen?

2. In welcher Art und Weise hat sich die niedersächsische Polizei nach dem definitiven Verbot der so genannten Hess-Veranstaltungen in Wunsiedel auf die Bewältigung möglicher Einsätze in Niedersachsen vorbereitet?

3. Zu welchen Zeiten wurden welche Kräfte an welchen Standorten für die möglichen landesweiten Einsätze vorgehalten?

Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Vorbemerkung:

Die rechtsextremistische Szene führt anlässlich des Todestages des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß alljährlich Aktionstage mit Aufmärschen und Kundgebungen sowie anderen propagandistischen Aktionen durch. Am 17.08.2005 jährte sich zum 18. Mal dieser für die rechtsextremistische Szene symbolträchtige Tag. In den vergangenen Jahren ist Wunsiedel (Bayern) zur zentralen, fest eingeplanten Großveranstaltung des rechtsextremistischen Spektrums geworden. Auch für dieses Jahr war für Samstag, den 20.08.2005 ein zentraler "Heß-Gedenkmarsch" angemeldet worden. In einem Eilverfahren hat das Bundesverfassungsgericht das vom Landratsamt Wunsiedel aufgrund zwischenzeitlicher Änderungen im Versammlungsrecht ausgesprochene Versammlungsverbot bestätigt.

Erkenntnisse über organisierte anlassbezogene Veranstaltungen oder Aktionen lagen für Niedersachsen nicht vor. Jedoch musste auch in diesem Jahr mit dezentralen propagandistischen Aktionen durch Angehörige der rechtsextremistischen Szene gerechnet werden.

Relevant war hierfür der Zeitraum vom 13.08.2005 bis 21.08.2005. Mit Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 02.08.2005 wurden die Polizeibehörden beauftragt, sich auf der Grundlage der Rahmenkonzeption der Niedersächsischen Polizei zur Inten-sivierung der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und sonstiger politisch motivierter Kriminalität-rechts- auf entsprechende Einsatzanlässe vorzubereiten und polizeiliche Maßnahmen bei niedriger Einschreitschwelle konsequent und unter Ausschöp-fung der rechtlichen Möglichkeiten durchzuführen. Das Landeskriminalamt Niedersachsen wurde beauftragt, das Lagebild fortzuschreiben und den Informationsfluss zu den Polizeibehörden zu gewährleisten. Erkenntnisse, die ein sofortiges polizeiliches Handeln erfordern, sollten den Dienststellen unmittelbar übermittelt werden. Für den Zeitraum vom 19.08.2005 bis 21.08.2005 hat das Landeskriminalamt Niedersachsen eine Informations- und Sammelstelle eingerichtet. Die Zentrale Polizeidirektion wurde beauftragt, am Wochenende 19. – 21.08.2005 Landesreserven in Zugstärke rund-um-die-Uhr – beginnend am 19.08.2005, 19.00 Uhr und endend am 21.08.2005, 19.00 Uhr – bereitzuhalten.

Mit separaten Verfügungen haben die Polizeidirektionen für ihre Zuständigkeitsbereiche die intensive Aufklärung zur Feststellung möglicher Aktionen und Vorhaben durch Kräfte des polizeilichen Staatsschutzes intensiviert, eine Führungsübernahme mit einem Polizeivollzugsbeamten des höheren Dienstes sichergestellt sowie eine Verstärkung des Einsatz- und Streifendienstes für den o.g. Zeitraum angeordnet.

Das Landeskriminalamt Niedersachsen kam am 18.08.2005 aufgrund des Verbots der geplanten zentralen Veranstaltung in Wunsiedel zu der Bewertung, dass die rechtsextremistische Szene alles daran setzen würde, eine Ausweichveranstaltung durchzuführen. Mit Anmeldungen in anderen Bundesländern war zu rechnen. Aber auch dezentrale Aktionen auf regionaler bzw. lokaler Ebene galten als möglich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war jedoch davon auszugehen, dass von der rechtsextremistischen Szene angemietete Busse in Richtung Süden fahren würden. Hinweise auf Anmeldungen von versammlungsrechtlichen Veranstaltungen und geplante Aktionen mit eindeutigem Bezug zum Jahrestag lagen für Niedersachsen nicht vor.

Die Polizeibehörden wurden jedoch ergänzend per Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport am 19.08.2005 beauftragt, die bereits begonnenen Aufklärungsmaßnahmen intensiviert fortzusetzen, insbesondere hinsichtlich der Absichten in der links- bzw. rechtsextremistischen Szene, Mobilisierungsbestrebungen für Demonstrationen am 20.08.2005 und kurzfristiger Ersatz- bzw. Resonanzveranstaltungen.

Ca. 170 Einsatzkräfte der Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen waren am 20.08.2005, neben dem Zug der Landesreserve in Göttingen, aufgrund von Veranstaltungen in Wolfsburg (Volkstriathlon) und Hannover (Reincarnation-Parade 2005) eingesetzt. Sofern sich Einsatzlagen im Einzugsbereich anderer Polizeibehörden entwickeln, die im Rahmen einer Prioritätensetzung eine Kräfteverlagerung erforderlich machen, besteht für das Landespolizeipräsidium die Möglichkeit, auf diese zu jeder Zeit zuzugreifen. Ein zusätzliches Aufstocken niedersächsischer Einsatzkräfte im Vorfeld war von daher und aufgrund der Mitteilung des Landeskriminalamtes Nieder-sachsen, dass Hinweise auf Aktionen in Niedersachsen nicht vorlagen, nicht erforderlich. Im Übrigen haben die Bundesländer – basierend auf dem Beschluss des Unterausschusses "Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung" des Arbeitskreises II der Innenministerkonferenz vom 22.03.2000 – vereinbart, sich im Falle polizeilicher Einsatzlagen, die extremistische oder gewaltorientierte Aktionen zum Anlass haben, länderübergreifend gegenseitig zu unterstützen. Mit dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport wurde daher vorab abgesprochen, sich im Bedarfsfall an diesem Tag gegenseitig zu unterstützen und Einsatzkräfte zu entsenden.

Nach Einschätzung des Niedersächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz kristallisierte sich einerseits als "legale Alternative" zur geplanten zentralen Rudolf-Heß-Gedenkveranstaltung in Wunsiedel eine für den 20.08.2005 in Nürnberg angemeldete NPD-Wahlkampfveranstaltung heraus. Andererseits verdichteten sich die Anzeichen auf dezentrale Kundgebungen in Berlin, im Raum Magdeburg/Sachsen-Anhalt, Karlsruhe und Jena. Die Mobilisierung innerhalb der rechtsextremistischen Szene konzentrierte sich anschließend insbesondere auf die vom NPD-Kreisverband Magdeburg angemeldete Demonstration. Diese wurde am Vormittag des 20.08.2005 kurzfristig verboten.

Die Nachricht dieses Verbotes erreichte die mit Reisebussen nach Magdeburg anreisenden Teil-nehmer z. T. erst kurz vor ihrer Ankunft in Magdeburg. Bis zu diesem Zeitpunkt spielte Niedersachsen in den Planungen der Rechtsextremisten weder "offiziell" eine Rolle, noch gab es Hinweise auf konspirativ vorbereitete oder spontane Kundgebungen auf niedersächsischem Gebiet. Sowohl das Niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz als auch das Landeskriminalamt Niedersachsen kommen zu der Bewertung, dass bis zuletzt weder Niedersachsen im Allgemeinen noch Peine im Speziellen ein Ziel für die Durchführung einer Demonstration / Kundgebung im Zusammenhang mit dem 18. Todestag von Rudolf Heß war. So hat ein Teil der Businsassen kurzfristig beschlossen, Peine anfahren zu lassen. Einige Busse hatten die Abfahrt Peine in Richtung Westen bereits passiert, bevor sie vermutlich von Insassen anderer Busse zum Umdrehen und anschließend zur Fahrt zum Peiner Schützenplatz aufgefordert wurden.

Es war somit nicht vorhersehbar, dass gegen 12.40 zunächst vier Reisebusse auf dem Schützenplatz in Peine eintrafen, die an der Abfahrt Peine die Bundesautobahn 2 aus Richtung Westen kommend verlassen hatten. Die Insassen – allesamt Angehörige der rechtsextremen Szene – formierten sich unverzüglich zu einem geschlossenen Block und führten einen Aufzug durch die Fußgängerzone der Peiner Innenstadt durch. Die Personen waren einheitlich schwarz gekleidet und führten vereinzelt Fahnen mit verschiedenen, strafrechtlich nicht relevanten Wappen mit. In Sprechchören skandierten sie – ebenfalls strafrechtlich nicht relevante – Parolen wie "Ruhm und Ehre für Rudolf Heß", "Rudolf Heß – Das war Mord" und "Wir leisten Widerstand". Der Dienstschichtleiter des Polizeikommissariates Peine hat mit Beginn des Aufzuges alle erforderlichen Sofortmaßnahmen eingeleitet (u.a. Aufklärung, Dokumentation, Anforderung von Einsatzkräften). Insbesondere aber löste er – nach Kontaktaufnahme mit einem Verantwortlichen – die nicht angemeldete Demonstration gegen 12.50 Uhr auf. Den Aufzug jedoch schon zu diesem Zeitpunkt aufzuhalten und die Auflösungsverfügung zwangsweise durchzusetzen, wäre aufgrund der Kräftelage zu diesem Zeitpunkt mit einer ernsthaften Gefährdung der Beamten und einer Gefahr für Passanten und Geschäfte in der Stadt Peine verbunden gewesen. In Höhe der Jakobikirche stoppte der Aufzug gegen 12.52 Uhr zu einer ersten Kundgebung. Gegen 13.00 Uhr übernahm der Leiter des Polizeikommissariats Peine die Einsatzleitung. Er wiederholte gegen 13.03 Uhr die Auflösungsverfügung gegenüber dem Verantwortlichen. Sämtliche polizeiliche Anweisungen wurden jedoch missachtet. Zwischenzeitlich war es zu einem erheblichen Zustrom von Versammlungsteilnehmern gekommen, da weitere fünf Busse den Schützenplatz in Peine angefahren hatten. Eine weitere Kundgebung wurde gegen 13.12 Uhr auf dem Marktplatz abgehalten. Im Anschluss an diese begaben sich die Demonstrationsteilnehmer geschlossen durch die Fußgängerzone zurück zu ihren Bussen, die sie gegen 13.30 Uhr erreichten. Angesichts der dort mittlerweile eingetroffenen Polizeikräfte und der Ankündigung polizeilicher Maßnahmen versprengten sich die Businsassen einzeln und in Kleingruppen im Innenstadtbereich. Eine dieser Gruppen formierte sich spontan zu einem weiteren Aufzug. Nach Intervention der Polizei kehrten alle Businsassen gegen 13.35 Uhr jedoch wieder zum Schützenplatz zurück. Ab diesem Zeitpunkt kontrollierte die Polizei das Geschehen aufgrund des Erreichens einer vertretbaren Einsatzstärke und traf alle weiteren erforderlichen Maßnahmen. Mit eigenen Kräften der Polizeidirektion Braunschweig, dem Zug der Landesreserve aus Göttingen, der Einsatzhundertschaft aus Hanno-ver sowie der Alarmhundertschaft aus Hessen wurden insgesamt 256 Beamte in Peine eingesetzt. Eine angebotene Unterstützung einer luftverlasteten Einsatzreserve der Bundespolizei war im weiteren Verlauf des Einsatzgeschehens nicht mehr erforderlich.

Auf dem Schützenplatz in Peine sind die Identität von allen 412 Demonstrationsteilnehmern festgestellt sowie Straf- und Ordnungswidrigkeitenanzeigen wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und das Strafgesetzbuch (Körperverletzung, Beleidigung, Ver-wendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) erstattet worden.

Der Aufmarsch von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene in Peine ist von der örtlichen Polizei im Zusammenwirken mit Unterstützungskräften professionell bewältigt worden. Infolge des äußerst kurzfristigen und konspirativen Vorgehens der Organisatoren war es für die niedersächsischen Sicherheitsbehörden nicht möglich, im Vorfeld von dem Entschluss zur Durchführung einer Kundgebung in Peine zu erfahren. Für die Polizei war es vor diesem Hintergrund faktisch unmöglich, allerorts ausreichend stark präsent zu sein und schon im Ansatz einen solchen Aufmarsch zu verhindern. In einem Flächenland wie Niedersachsen kann von daher solchen Einsatzanlässen nur mit einem flexiblen polizeilichen Einsatz- und Kräftekonzept und sofortigem konsequenten Handeln wie in Peine adäquat begegnet werden.

Dieses vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen des Abgeordneten namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:

Siehe Vorbemerkung.

Zu 2.:

Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport hat mit zwei Erlassen vom 02.08.2005 und 19.08.2005 die Polizeibehörden intensiv auf die Lage im Zusammenhang mit diesem Ereignis vorbereitet. Im Übrigen siehe Vorbemerkungen.

Zu 3.:

Am 20.08.2005 stand ein Zug der Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen in einer Stärke von 25 Beamten in Göttingen für landesweite Einsätze zur Verfügung. Darüber hinaus waren weitere ca. 170 Einsatzkräfte der Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen aufgrund von Veranstaltungen in Wolfsburg und Hannover eingesetzt. Zwar lagen für Niedersachsen keinerlei Hinweise vor, dass nach dem Verbot in Wunsiedel in Niedersachsen Ersatzveranstaltungen durchgeführt werden sollten. Da aber aus der Erfahrung der vergangenen Jahre nicht völlig ausgeschlossen werden konnte, dass es trotz dieser gegenteiligen Erkenntnislage doch zu nicht vorhersehbaren Spontanveranstaltungen kommen konnte, bestand von vornherein die Konzeption, auf diese Einsatzkräfte bei Eintritt eines solchen Falles zurückzugreifen. Aufgrund vorheriger Absprachen mit dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport standen weitere Einsatzkräfte der hessischen Polizei aus Kassel zur Verfügung. Im Übrigen siehe Vorbemerkungen.

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Artikel-Informationen

erstellt am:
16.09.2005
zuletzt aktualisiert am:
20.05.2010

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